Gerechte Noten: Auf den Maßstab kommt es an

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Schulleiterin Ute Krumsiek-Flottmann und ihr Kollegium bemühen sich um größtmögliche Transparenz bei der Notenvergabe. Foto: Alex Büttner
Am Friedrich-List-Berufskolleg Herford wurden Punktekonten eingeführt: Lehrer Marco Grahl-Marniok berät Schüler. Foto: Alex Büttner

Die Zensurenvergabe gehört zum Lehreralltag. Für einige ist sie Stress, für andere Routine. Für alle aber gilt: Vorsicht vor Kriterien, die nicht transparent zu machen sind.

Jetzt aber schnell. Doris Bahner* eilt zur ersten ihrer fünf Zeugniskonferenzen am Ende des Schulhalbjahres. Zusammen mit 15 Kollegen entscheidet sie gleich über die Noten für die 9a. Ihre eigenen Zensuren für 30 Jugendliche hat sie vorbereitet, jetzt geht es darum, diese mit den Fachkollegen abzustimmen. Bahners Kollegin, die Klassenlehrerin, eröffnet die Runde.

Als Erstes geht es um die soziale Situation in der Klasse. Die ist entspannt, finden die Kollegen. Ein Mädchen hat allerdings psychische Probleme und ist deshalb in einer Klinik. Dann geht es um die leistungsschwachen Schüler. Bahner fragt in die Runde: „Lukas* ist bei mir total apathisch und hat eine 5. Ist das in den anderen Fächern ähnlich?“ Niemand hat Vergleichbares zu berichten. „Dann scheint das ein singuläres Problem zu sein, und wir müssen hier gezielt beraten“, sagt die Klassenlehrerin und geht zum nächsten Schüler über. Als es um die Leistungsstarken geht, kommt wieder Sarah* ins Spiel, das Mädchen mit der psychischen Erkrankung. Sie steht in jedem Fach eins. „Wie gehen wir mit ihrem Perfektionismus um, wenn sie zurückkommt?“, fragt die Klassenlehrerin. Das Kollegium berät kurz und entscheidet sich dafür, die erste Klassenarbeit von Sarah nach ihrer Rückkehr nicht zu bewerten. Dann ist die Konferenz geschafft, Bahner macht sich noch eine letzte Notiz und packt ihre Sachen zusammen.

Für Bahner sind es nur fünf, andere Lehrer können aber am Ende des Halbjahres auch mal leicht auf 15 Konferenzen kommen. Alltag an den Schulen im Land. Dabei geht es aber nicht nur um fachliche Einschätzungen, sondern um ein Gesamtbild der Schülerin und des Schülers, konkret: welche Schwierigkeiten beispielsweise in der Familie vorliegen, ob gesundheitliche Probleme zu berücksichtigen sind oder wie es um das Freizeitverhalten bestellt ist – und darum, mögliche Fehleinschätzungen einer einzelnen Lehrkraft zu korrigieren. Das ist sinnvoll, denn jeder, der schon mal Noten vergeben hat, weiß, dass in diese Beurteilung bewusst oder unterbewusst nicht nur Leistungskriterien mit einfließen. „Lehrer beurteilen auch das Engagement, die Motivation und das Potenzial, das sie in einem Schüler sehen“, sagt Prof. Eckhard Klieme vom Deutschen Institut für Pädagogische Forschung. Und das sei auch gut so. Noten hätten eben vielschichtige pädagogische Funktionen. Sie geben Rückmeldungen über individuelle Leistungen, bieten im Lernprozess Orientierung und erziehen durch Sanktionen und Belohnung. Soweit die Theorie.

Die Praxis ist noch komplexer.  Denn dabei kommt der gewählte Maßstab ins Spiel. Lehrerinnen und Lehrer vergeben Noten hauptsächlich auf der Grundlage von drei unterschiedlichen Ansätzen, wie Klieme berichtet, der die Art und Weise der Notenvergabe aktuell in seinem Projekt „Conditions and Consequences of Classroom Assessment“ untersucht:

Erstens, sie nehmen eine „kriteriale Bewertung“ vor – nach Standards, die unter anderem in Lehrplänen festgeschrieben sind.

Zweitens, sie bewerten relativ nach Sozialnormen, fragen sich also: Wie steht der Schüler in Bezug zur Gruppe, in der er sich befindet?

Drittens, der individuelle Bezugsrahmen wird in den Blick genommen, gefragt wird also: Wie hat sich der Schüler entwickelt?

Klieme empfiehlt die erste und die dritte Herangehensweise. Denn die Grundlage der Bewertung hat Auswirkungen auf die Lernfreude der Kinder und Jugendlichen. „Im Experiment stellte sich heraus, dass Schülerinnen und Schüler mit Methode eins und drei anschließend motivierter sind und besser lernen“, sagt er. Leider sei der zweite Ansatz, die „an der Sozialnorm orientierte Rückmeldung“, recht verbreitet. Die schafft aber Unzufriedenheit, denn eine solche Beurteilung „nach Normalverteilung“ ist oft weder objektiv noch gerecht. Und da wird es tatsächlich knifflig.

Denn Noten sind ja nicht nur Rückmeldungen, die innerhalb des Schulsystems eine Rolle spielen. Sie bieten Bildungs- und Arbeitsmarktchancen. Gleichwohl gibt es immer wieder Zweifel an der Güte der Notenvergabe. Für Aufsehen – allerdings auch heftigen Widerspruch – sorgte 2009 eine Studie der Universität Oldenburg, nach der die Vornamen von Schülerinnen und Schülern für deren Schulnoten mitentscheidend sein können. Grundschullehrkräfte, so die Autoren, verbänden mit Kindernamen bestimmte Vorurteile, „ohne darüber zu reflektieren oder davon Abstand zu halten“. Jungen mit dem Namen Kevin etwa würden stereotyp als verhaltensauffällig gelten – und womöglich entsprechend beurteilt. Auch wenn es tatsächlich wissenschaftlich fragwürdig erscheint, weitreichende Schlüsse zur Beurteilungspraxis lediglich aufgrund einer Befragung zur Einstellung von Lehrkräften zu ziehen (wie in diesem Fall geschehen), so gibt es doch auch fundiertere Untersuchungen, die in eine ähnliche Richtung weisen.

  • Eine Expertise des Siegener Erziehungswissenschaftlers Prof. Hans Brügelmann von 2006 („Sind Noten nützlich – und nötig?“), die Erkenntnisse aus mehreren Studien zum Thema zusammenfasste, kam zu dem Schluss: „Soziale und ethnische Herkunft, Geschlecht, aber auch Verhaltensauffälligkeiten und persönliche Sympathie führen zu systematischen Verzerrungen der Beurteilung.“
  • Bildungsforscher der Universität Halle testeten Grundschüler und verglichen die Ergebnisse mit deren Schulnoten. Ergebnis der Studie „Geschlechtergerechtigkeit in der Schule“ von 2008: „Mädchen werden positiver benotet, als die reinen Testergebnisse hätten erwarten lassen, sie erhalten einen Mädchenbonus.“ Ihre als zuverlässiger wahrgenommene Arbeitshaltung und ein günstigeres Sozialverhalten wirkten sich dabei aus – und zwar erkennbar über ein vertretbares Maß hinaus.
  • Von Lehrkräften wird sogar eingeräumt, Mädchen und Schüler mit Migrationshintergrund zumindest manchmal besonders mild zu bewerten – rund die Hälfte der Befragten gibt in der noch unveröffentlichten Studie von Bildungsforscher Klieme Entsprechendes zu Protokoll. Zu einer solchen „positiven Diskriminierung“, so der Professor, neigten besonders weibliche Lehrkräfte.

 „Es gab immer wieder Schülerinnen und Schüler, die meinten, wir würfeln die Noten aus“, sagt Petra Linge-Stühn, Leiterin der Hauptschule Meinerzhagen. Auch unter Eltern, so hätten sie und ihr Kollegium festgestellt, sei die Verunsicherung rund um das Thema Zensuren groß gewesen. Um dem entgegenzuwirken, macht die Schule die Notenvergabe seit einiger Zeit transparent – mit einem Informationsschreiben für Eltern, in dem die Grundsätze der Leistungsbewertung dargestellt sind und in fachbezogenen Übersichten, die für Schüler die Kriterien konkret machen. Im Elternbrief wird unter anderem ausgeführt, welche gesetzlichen Grundlage für die Benotung besteht, wie viele Klassenarbeiten in jedem Schuljahr zu schreiben sind, woraus sich „sonstige Leistungen“ zusammensetzen und in welchem Verhältnis bewertet wird, nämlich „meistens im Verhältnis 40 Prozent (schriftlich) zu 60 Prozent (mündlich)“ . Schüler erfahren in den Informationsblättern etwa zum Fach Sport, dass sich eine Note aus „Leistungen, die man sehen, messen, beurteilen kann“, aus dem „Leistungswillen“, dem „Verhalten in der Gruppe“, der „regelmäßigen Teilnahme“ und der „vollständigen Ausrüstung“ zusammensetzt. In anderen Fächern bekommen sie aufgelistet, wie eine Mappe zu führen ist – und wie das dann bewertet wird. Die Transparenz, so sagt Leiterin Linge-Stühn, hat sich bewährt: „Wir haben an unserer Schule nur wenige Auseinandersetzungen um Noten.“ Sie sieht darüber hinaus die Motivation ihrer Schüler gestärkt. Denn: „Nur wenn ich mich selber beurteilen kann, weiß ich, wie ich mich noch verbessern muss.“

Voraussetzung dafür, die Kriterien der Notenvergabe offenzulegen, sind allerdings präzise Absprachen im Kollegium – und eine Kontrolle, dass diese Absprachen auch eingehalten werden. An der Hauptschule Meinerzhagen geht die Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer so weit, dass Klassenarbeiten innerhalb eines Jahrgangs parallel geschrieben werden, um Aufgaben austauschen und Anforderungen absprechen zu können. „Es sollte nicht so sein, dass einige Schüler das Glück haben, vom großzügigen Lehrer A gute Noten geschenkt zu bekommen, und andere das Pech haben, vom verkniffenen Lehrer B beurteilt zu werden“, sagt Linge-Stühn. Darüber zu wachen, dass dies auch in der Praxis funktioniert, sei dann Aufgabe der Schulleitung. „Es geht dabei um den Schutz des Kollegiums. Wenn einer mit sich feilschen lässt, bringt das die anderen in Erklärungsnot“, betont die Rektorin. Und ungerecht wäre es obendrein – den Schülern gegenüber, die Leistung gezeigt hätten und dann erleben müssten, dass gute Zensuren auch anders zu bekommen seien.

Unterstützung aus dem Team, vor allem für Referendare sowie jüngere Kolleginnen und Kollegen, erachtet auch Bildungsforscher Klieme als wichtig an. „Lehramtsstudenten lernen wenig über die Notenvergabe“, sagt der Professor. „Vor allem die Vergabe mündlicher Noten ist oft unklar. Das ist ein pädagogisches Problem und ein Problem der Chancengerechtigkeit.“

Dass gerade die „sonstige Mitarbeit“ immer wieder zu Diskussionen führt, weiß auch Ute Krumsiek- Flottmann, Leiterin des Friedrich-List-Berufskollegs in Herford. Mitglieder ihres Kollegiums wollten genau wissen, was die Schülerinnen und Schüler über die Notenvergabe denken – und befragten sie. Mithilfe des Selbstevaluationsinstrumentes SEIS, bei dem Kinder und Jugendliche zu Qualitätsmerkmalen ihrer Schule Auskunft geben sollen, wurde die Zustimmungsrate zu der Aussage: „Ich weiß, welche Leistungen ich erbringen muss, um gute Noten erreichen zu können“ ermittelt. Ergebnis: verschwindend gering, wie Lehrer Marco Grahl-Marniok berichtet. „Das Bewertungssystem war für die Schüler nicht transparent“, sagt er. Schulleiterin Krumsiek- Flottmann ergänzt: „Das traf unser eigenes Empfinden. Wir haben unsere Notenvergabe reflektiert und konnten uns nicht davon freisprechen, dass da mitunter Subjektivität mitschwingt.“ Dabei sei es doch das erklärte Ziel der Schule, jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin gerecht zu werden. Das Friedrich-List-Berufskolleg trägt das Gütesiegel Individuelle Förderung des Schulministeriums NRW. Eine mögliche Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wollten die Lehrerinnen und Lehrer insbesondere des Beruflichen Gymnasiums der Schule nicht hinnehmen – und machten sich an die Arbeit. Das war vor fünf Jahren. Seitdem haben sie mit wissenschaftlicher Begleitung durch das baden-württembergische SOL-Institut ein Gesamtkonzept zum „selbstorganisierten Lernen“ (SOL) aufgebaut. Eine zentrale Säule dieses Unterrichtssystems ist die neue Form der Leistungsbewertung: Es gibt mittlerweile für Schüler und Lehrer gleichermaßen grundlegende Bewertungsraster für die „sonstige Mitarbeit“ in jedem Fach und jeder Stufe, sogenannte Punktekonten.

„Die Punktekonten spiegeln das, was in den Richtlinien vorgegeben ist“, berichtet Lehrer Rolf Backhaus, der die eigens eingerichtete Entwicklungsgruppe an der Schule leitet. Dazu zählen einerseits zum Beispiel Nachweise zum Basiswissen, die der Schüler im Unterricht zu erbringen hat, andererseits zusätzliche Leistungen, mit denen er weitere Punkte sammeln kann, insbesondere auch für überfachliche Kompetenzbereiche wie etwa Teamfähigkeit.

Für den Leistungskurs Mathematik der Stufe 11.2 sieht das konkret so aus: 33 Pflichtfelder umfasst der insgesamt dreiseitige Punktebogen, darunter „Ich kann Folgen mit Hilfe der Grenzwertdefinition auf die Existenz eines Grenzwertes hin untersuchen“ oder „Ich habe die wichtigsten Rechenregeln der Potenz- und Logarithmengesetze nachgearbeitet und kann diese anwenden“. Unter den möglichen Zusatzleistungen finden sich Aufgaben wie „Ich habe nach Anmeldung eine Lernberatung angenommen zu einem Punkt, den ich gerade bearbeite und nicht verstehe.“ Oder „Ich habe nach Anmeldung eine Lernberatung angeboten zu einem Punkt, den ich bereits erfolgreich bearbeitet habe.“ Zusammenarbeit unter Schülern wird also honoriert. Neben jedem Feld steht als Richtgröße die zu erreichende Maximalpunktzahl, daneben wiederum trägt der Lehrer die tatsächlich erreichte Punktzahl ein. Den Bogen behält der Schüler – er trägt die Verantwortung dafür, dass das Papier nicht verloren geht. Wenn doch, drohen ihm null Punkte.

Die Vorarbeiten unter Einbeziehung von Schülern und Eltern seien aufwendig gewesen, erinnert sich Lehrer Grahl-Marniok, der auch der Entwicklungsgruppe angehört. Und vereinzelt hätten sich in der Einführungsphase Schwierigkeiten ergeben, die aber schnell bereinigt worden seien – etwa dergestalt, dass zunächst jeder Schüler für das Anbieten einer Lernberatung Zusatzpunkte sammeln konnte (was Fünferkandidaten dazu brachte, einem Einser- Schüler eine Lernberatung zu geben, wie sich der Pädagoge schmunzelnd erinnert); mittlerweile sind Lernberatungen erst nach Anmeldung bei der Fachlehrkraft möglich. Jetzt aber – seitdem die Bögen einmal entwickelt sind und nur noch auf Grund geänderter Rahmenbedingungen angepasst werden müssen – wirke das System entlastend. „Ich fand die Notenvergabe früher stressiger“, berichtet Grahl- Marniok. „Als einzelner Lehrer stand ich viel stärker in der Dokumentationspflicht. Heute meckern Schüler manchmal auch noch, aber dann kann man sagen: Komm, wir gehen dein Punktekonto zusammen durch.“ Dabei bewähre sich die Nachvollziehbarkeit der Leistungsbewertung.

Und was halten die Schüler von dem neuen System? Er könne jetzt gezielter an sich und seinen Leistungen arbeiten, meint Abiturient Kevin Barschdorff – und dabei durchaus auch taktisch vorgehen, etwa einen bewusst etwas geringeren Einsatz in einem ihm nicht so gut liegenden Leistungsfeld durch ein besonderes Engagement an anderer Stelle ausgleichen. Eine besondere Schülergruppe, so weiß Grahl-Marniok, habe allerdings mit der Einführung gehadert: die Überflieger nämlich. Die sehr guten Schülerinnen und Schüler hätten in der Vergangenheit darauf bauen können, dass die Lehrerschaft über schwächere Phasen hinwegschaut und im Wissen um ihr Potenzial großzügig benotet. Das sei nun in der Tat vorbei. Grahl-Marniok: „Bei uns hat jetzt keiner Bonuspunkte mehr. Jeder beginnt am Halbjahresanfang bei Null – mit einem leeren Bogen.

Zeugniskonferenzen gibt es übrigens am Friedrich- List-Berufskolleg nach wie vor. „Über pädagogische Maßnahmen zum Beispiel müssen wir ja immer noch beraten“, sagt Schulleiterin Krumsiek- Flottmann.

* Namen geändert

Nina Braun / Andrej Priboschek

Aus: Forum Schule 1/2011

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