Alarmzeichen: Wenn Jugendliche entgleiten

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Warnsignale erkennen und Amokläufe verhindern; (Foto: Karl-Heinz Laube / pixelio.de)
Warnsignale erkennen und Amokläufe verhindern; (Foto: Karl-Heinz Laube / pixelio.de)

So genannte Amokläufe sind keine spontanen Ausbrüche. Ihnen gehen stets Warnsignale voraus, sagen die Gewaltforscher Jens Hoffmann und Karoline Roshdi.

Winnenden, 11. März 2009 – Zunächst geht die Nachricht durch die Medien, dass ein junger Mann in der Albertville- Realschule Amok läuft. Erst später wird das ganze furchtbare Ausmaß deutlich: Der 17-jährige ehemalige Schüler bringt 15 Menschen um, bevor er sich selbst das Leben nimmt. Wie schon zuvor beim Amoklauf an einem Gymnasium in Erfurt fragt sich die Öffentlichkeit: Wie kann etwas so Entsetzliches geschehen?

Bereits seit Erfurt im Jahr 2002 beschäftigt auch uns diese Frage. Schon zu diesem Zeitpunkt waren Untersuchungen aus den USA bekannt, die nahe legten, dass solchen Gewalttaten zumeist Warnsignale vorausgehen. An der Arbeitsstelle für Forensische Psychologie der Technischen Universität Darmstadt begannen wir schließlich, deutsche Fälle von schweren Gewalttaten an Schulen auszuwerten.

Zielgerichtete und geplante Ereignisse

Die ersten Ergebnisse wirkten zunächst verblüffend: Scheinbar ganz im Gegensatz zum Begriff Amok stehend, stellen die Taten gerade nicht spontane Gewaltausbrüche dar, sondern vielmehr zielgerichtete und geplante Ereignisse. Die Schule wird bewusst als Tatort ausgewählt. Sie stellt für den jugendlichen Täter den Ort der letzten, für ihn entscheidenden Kränkung dar. Insgesamt gehen der Tat mehrere Phasen voraus. Zunächst beginnt der Schüler oder auch ehemalige Schüler in Folge einer krisenhaften Entwicklung sich damit zu beschäftigen, eine schwere Gewalttat zu begehen. Diese Rache- und Gewaltfantasien weisen zumeist eine kompensatorische Dynamik auf und haben den Zweck, Ohnmacht- in Machtgefühle zu wandeln. In der Regel findet dabei eine Orientierung an vorangegangenen Schulamokläufen seitens des Jugendlichen statt, wobei die Täter als negative Helden bewundert und verehrt werden. Es kommt anschließend zu einer Phase der Tatplanung, in der manchmal auf fast schon spielerische Art etwa Todeslisten oder konkrete Angriffspläne erstellt werden. Darauf folgt die Phase der Tatvorbereitung: Beispielsweise wird eine Waffe beschafft, selbst produzierte Abschiedsvideos werden in das Internet gestellt, um den eigenen Nachruhm zu inszenieren und um sich unsterblich zu machen oder ähnliches. Wie unsere Forschungen zeigen, lassen sich die hier geschilderten Phasen immer als ein Weg zu einer Gewalttat beschreiben, auf welchem der spätere Täter Risikosignale in Form von Verhaltens- und Kommunikationsanzeichen zeigt. Diese Erkenntnis eröffnet die Möglichkeit, mit der Prävention solcher schweren Gewalttaten direkt in der Schule anzusetzen.

Zwei reale Beispiele aus Deutschland sollen illustrieren, wie deutlich solche Warnsignale häufig im Vorfeld in Erscheinung treten: In einem Fall erzählte ein Jugendlicher mehreren Mitschülern davon, dass er am nächsten Tag in der Schule eine bestimmte Lehrerin ermorden werde. Keiner der Gleichaltrigen nahm ihn ernst und meldete dies weiter. Im Gegenteil wurde der Jugendliche sogar von seinen Mitschülern aufgestachelt, die Tat zu begehen. Wie angekündigt brachte er schließlich die Lehrerin mit einem Messer um. In einem anderen Fall bildete ein Exschüler in einem Videospiel das Innere seiner früheren Schule detailliert nach, so dass der Spieler dort virtuell Amok laufen konnte. Er zeigte dies Schülern und Lehrern seiner ehemaligen Schule, doch niemand fragte genauer nach, was es damit auf sich hatte. Schließlich kehrte der Jugendliche bewaffnet in die Realschule zurück, um einen Amoklauf zu begehen, wobei er zahlreiche Menschen verletzte und sich schließlich suizidierte.

Frühwarnsignale erkennen und ernst nehmen

Für die Prävention solcher Taten müssen Lehrer und andere Personen, die in der Schule tätig sind, überhaupt wissen, auf welche Warnsignale sie zu achten haben. Dabei ist es wichtig, in entsprechenden Schulungen für diesen Personenkreis zu verdeutlichen, dass solche Risikomarker sich nach einer ersten Untersuchung zumeinst als nicht bedrohlich erweisen, um eine falsche Beunruhigung zu vermeiden. Dennoch ist es zugleich bedeutsam, jedem einzelnen Warnsignal Aufmerksamkeit zu schenken, da somit bedenkliche Entwicklungen früh entdeckt werden können. Beispiele für solche Warnsignale sind:

  • Suizidäußerungen
  • Das Zeigen von Waffen
  • Die Bewunderung anderer Amokläufer
  • Ausufernde Gewaltfantasien
  • Drohungen und konkrete Tatankündigungen
  • Erstellen von Todeslisten.

Treten solche Frühwarnsignale auf, sollte untersucht werden, ob sich dahinter möglicherweise eine krisenhafte Entwicklung verbirgt, die in Gewalt mündet. Dabei ist es wichtig, keinen Stereotypen aufzusitzen, wie etwa das Profil des typischen Schulamokläufers angeblich auszusehen habe. Dahinter steckt eine fundamentale Fehleinschätzung: Gefährlichkeit ist keine statische Persönlichkeitseigenschaft, sondern der Endpunkt einer krisenhaften Entwicklung. Beispielsweise wäre es ein Fehler, – wie oft geschehen – auf Einzelgänger zu fokussieren. In Wirklichkeit hatten einige der realen Täter Freizeitinteressen und waren beispielsweise Mitglied in Vereinen oder gingen einem Hobby nach. Fast alle jugendlichen Täter hatten einen Freundes- oder zumindest Bekanntenkreis. Auffällig war jedoch, dass die Täter sich vielfach kurz vor der Tat zunehmend von ihren sozialen Kontakten isolieren.

Nicht nur die Risikoeinschätzung, auch das Fallmanagement muss in der Schule beginnen. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, feste Strukturen und Ansprechpartner vor Ort zu schaffen. Bewährt haben sich Krisenteams, die direkt auf schulischer Ebene angesiedelt sind, wie sie das nordrhein-westfälische Schulministerium in seinen Notfallplänen empfiehlt. Eine solche Gruppe sollte regelmäßig zusammenkommen und bei konkreten Vorfällen gemeinsam das Geschehen einschätzen, mögliche Interventionsschritte diskutieren und dann auch umsetzen. Dabei sollte als Ausgangspunkt immer zunächst das Ereignis genauer betrachtet werden, welches dazu geführt hat, dass der Schüler auffällig geworden ist. Von dort ausgehend gilt es dann, das Fallverständnis zu erweitern.

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Es ist durchaus sinnvoll, dass sich ein schulisches Krisenteam nicht nur auf die Verhinderung von schweren Gewalttaten an Schulen fokussiert, sondern sich auch anderen Themen wie beispielsweise Suizidprävention, aggressiven Jugendgangs und ähnlichem widmet. Das hat mehrere Vorteile: Zum einen hat man nur ein und nicht mehrere Krisenteams an der Schule, welches so auch über Erfahrung mit dem Management unterschiedlicher Fälle verfügt. Zum anderen schürt man, wenn man als alleinige Zielstellung Schlagworte wie „Amokprävention“ verwendet, unnötig Ängste und erzeugt außerdem Widerstände, etwa in Form des berechtigten Hinweises, dass solche gewaltsamen Extremereignisse nur sehr selten vorkommen.

Handlungssicheres Krisenteam aufbauen

Zudem ist eine weitere Vernetzung mit Personen und Institutionen außerhalb der Schule von großer Bedeutung. Wichtige Partner sind beispielsweise Jugendämter, Psychotherapeuten, Erziehungsund Familienberatungsstellen und natürlich die Polizei. Für eine vertrauensvolle Kooperation sind auch persönliche Kontakte notwendig und ebenso ein Verständnis für die Verpflichtungen und Möglichkeiten der anderen beteiligten Berufsgruppen. Auch sollte besprochen werden, ab welcher Eskalationsstufe etwa die Polizei hinzugerufen wird.

Das von uns auf der Basis von Forschungsarbeiten und praktischer Erfahrungen entwickelte „System Sichere Schule“ ist ein bewährtes Fortbildungskonzept zur Installierung eines handlungssicheren Krisenteams an Schulen. Durch die dort erlernten Analyse-Tools und Bewertungsmöglichkeiten von Warnsignalen wird eine breite Spannweite an Krisen und Nöten von Schülern abgedeckt. Nach Durchlaufen des Konzepts erhalten alle Teilnehmer eine Zertifizierung zum „Krisenmanager nach dem System Sichere Schule“.

Ergänzend hierzu gibt es das online gestützte Risikoeinschätzungsinstrument „DyRiAS – Schule“ (Dynamisches Risiko Analyse System). Hiermit lässt sich das aktuelle Risiko eines Schülers oder ehemaligen Schülers einschätzen, in einem Schulzusammenhang eine schwere zielgerichtete Gewalttat gegen andere oder gegen sich selbst zu begehen.

In Amerika ist seit dem Einsatz von kompetenten Krisenteams an Schulen ein Rückgang derartiger Taten an Schulen zu verzeichnen. Auch hierzulande ist es wichtig, mit einer professionellen und systematischen Prävention und Früherkennung direkt in den Schulen anzusetzen. Denn Deutschland steht weltweit nach den USA an zweiter Stelle in der Anzahl an Taten schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen. Innerhalb von zehn Jahren starben in Deutschland 41 Menschen bei zielgerichteten Gewalttaten an Schulen.

Dr. Jens Hoffmann leitet das Institut für Psychologie & Bedrohungsmanagement der TU Darmstadt,

Karoline Roshdi ist Kriminalpsychologin dort. Beide beraten die Polizei in Fragen von Gewalt an Schulen.

Aus: Forum Schule 2/2009

www.institut-psychologie-bedrohungsmanagement.de

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