Bayern: Lehrer-Streit ums Gymnasium

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MÜNCHEN (red). Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Klaus Wenzel, hat eine inhaltliche Neuausrichtung für alle bayerischen Gymnasien gefordert.

Nachdem G8 nun eingeführt sei, gelte es, sich endlich von anachronistischen Lern- und Leistungsvorstellungen zu verabschieden. Das Kultusministerium in München reagierte mit einer scharfen Entgegnung. „Die Beschreibung, die der BLLV vom Gymnasium 2011 abgibt, widerspricht jeglicher Realität“, heißt es in einer Erklärung. Auch der Philologenverband kritisierte den Vorstoß.

Auch im bayerischen Landtag tobt der Streit um die Schulstrukturen. Die Grünen fordern das Ende des dreigliedrigen Schulsystems - die CSU kämpftunverdrossen für dessen Erhalt. Foto: digital cat /  Flickr (CC BY
Auch im bayerischen Landtag wird um die Schulstruktur gestritten. Die Grünen fordern das Ende des dreigliedrigen Schulsystems - die CSU kämpft unverdrossen für dessen Erhalt. Foto: digital cat / Flickr (CC BY

Tatsächlich kommt vom BLLV starke Kritik. „Wenn sich nichts bewegt, kann in diese Schulen keine Ruhe einkehren“, meint Wenzel. Die Belastungen seien für Schüler und Lehrer immens. Gleichzeitig sei die Effizienz gering – aufgrund einer  „Stoffüberfrachtung und Prüfungsfixierung“ . Indiviuelle Förderung finde nicht statt, die  Prüfungsdichte sei zu hoch und der Ausbau rhythmisierter Ganztagsgymnasien komme kaum voran. Lehrkräfte sähen sich dadurch gezwungen, ihre Schüler im 45- beziehungsweise 90-Minuten-Takt frontal zu unterrichten. Die Schüler wiederum spulten das schnell angeeignete Wissen bei den Prüfungen ab, ihre Leistungen würden dann verglichen und bewertet. „Diese Vorgehensweise ist nicht zeitgemäß“, kritisiert Wenzel. Tiefes Verstehen oder Erfassen komplexer Zusammenhänge blieben auf der Strecke.

Wenzel: „Die einzelne Lehrperson muss aus der Rolle des Aktiven, des Belehrers zurücktreten und mehr zum Beobachter und im Bedarfsfall Berater werden.“ Das sei ein schwieriger Prozess und könne in den gegenwärtigen gymnasialen Strukturen kaum gelingen. Deshalb sei den Lehrerinnen und Lehrern auch kein Vorwurf zu machen, betonte Wenzel. „Solche Prozesse brauchen Zeit und solange es Praxis ist, dass ein Gymnasiallehrer nach 45 oder 90 Minuten das Klassenzimmer wechseln muss und bis zu 300 verschiedene Schülerinnen und Schüler unterrichtet, kann das schwer gelingen.“

„Keine Zeit für individuelle Förderung“

Für individuelle Förderung ihrer Schüler hätten die Lehrerinnen und Lehrer an den Gymnasien weder Zeit noch Ruhe: „Wer tatsächlich individuell fördern will, muss zunächst einmal Eingangsdiagnosen für jeden einzelnen Schüler erstellen können. Sie sind die Basis für individualisierte Lern- und Förderpläne, nach denen jeder Schüler für sich arbeitet. Im nächsten Schritt werden individuelle Entwicklungs- und  Arbeitsprozesse beobachtet, entsprechende Rückschlüsse folgen. Der einzelne Schüler wird also mit sich selbst und nicht mit anderen verglichen. Daraus sind dann Lern- und Leistungsfortschritte ablesbar. In den immer noch übergroßen gymnasialen Eingangsklassen, die von höchst unterschiedlichen Kindern mit ebenso unterschiedlichen Bedürfnissen besucht werden, bräuchte es für die Umsetzung dieser Prozesse mindestens in den Kernfächern eine zweite Lehrkraft, sagt Wenzel. Das sei kostspielig und politisch nicht gewollt. „Stattdessen wird der Begriff der ‚individuellen Förderung’ instrumentalisiert.“

Weil die Kollegien an den Schulen allesamt mit massiven Personalmangel zu kämpfen hätten und versuchen müssten, die Unterrichtsversorgung irgendwie aufrecht zu erhalten, gebe es für Veränderungsprozesse keinen Raum: „Die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind ‚reformmüde’, weil sie die Erfahrung machen mussten, dass Reformen immer zu ihren Lasten gehen und das erforderliche Personal nicht zur Verfügung gestellt wird.“ Ihre Situation sei alles andere als einfach. „Sie werden mit ihren Problemen alleingelassen“, kritisierte Wenzel. „Inhaltliche Neuausrichtungen können ohne deutliche Verbesserungen der Lern- und Arbeitsbedingungen nicht vorangetrieben werden. Die bayerischen Gymnasien brauchen Lehrer, Lehrer und nochmals Lehrer.“

Kultusministerium: Zahl der Sitzenbleiber gesenkt

„Der BLLV verunsichert durch seine wenig fundierten Behauptungen die Schülerschaft, die Lehrkräfte und Eltern am Gymnasium“, lässt hingegen der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle erklären. Der geltende Lehrplan nehme die Anforderungen, die sich durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen auf schulische Bildung ergäben, auf und setze entsprechend stark auf die Vermittlung von Grundwissen, von Kompetenzen und Methoden. Diese Zielsetzung schlage sich im schulischen Alltag und im Unterricht konkret nieder – dabei spielen didaktische und methodische Innovationen eine wichtige Rolle. Der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte komme zentrale Bedeutung zu, heißt es in der Erklärung des Ministeriums. „Dem Zweifel des BLLV an der Effizienz der gymnasialen Bildung und der Förderung der jungen Menschen durch die Lehrkräfte widerspricht das gute Abschneiden der bayerischen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten beim Ländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Bei diesem haben die bayerischen Schülerinnen und Schüler den Platz 1 belegt.“ Darüber hinaus sei die Zahl der Sitzenbleiber an den bayerischen Gymnasien in den vergangenen Jahren von drei auf 1,8 Prozent gesenkt worden – und das trotz einer steigenden Quote von Schülern, die nach der Grundschule auf das Gymnasium wechseln würden.

Philologenverband: Der BLV hat keine Ahnung

Auch der Philologenverband reagiert mit Schärfe auf die Kritik des Konkurrenzverbandes. „Ein Gymnasium von innen gesehen hat der Chef des  BLLV wohl zuletzt als Schüler vor reichlich 40 Jahren. Anders kann ich mir seine kuriosen Auslassungen über unsere Schulart kaum erklären“, meint  Max Schmidt,  Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbandes. Die BLLV-Spitze habe vom Gymnasium so viel Ahnung „wie ein Fisch vom Fahrradfahren“. Wenzels Behauptungen seien Belege der Ahnungslosigkeit über die inhaltliche und pädagogische Entwicklung, die das Gymnasium in den letzten Jahrzehnten genommen habe. Seine Ideen reflektieren seine Erfahrungen als Lehrer an anderen Schularten, seien aber  untauglich – bis auf eine allerdings: Mehr Lehrkräfte für das Gymnasium sähe auch der Philologenverband gerne.

 

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