Zehn Jahre Pisa: Schleicher sieht Deutschland noch längst nicht am Ziel

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BERLIN (Mit Kommentar). Andreas Schleicher, OECD-Verantwortlicher für die Pisa-Studie, hat die nachlassende Reformdynamik in der deutschen Bildungspolitik kritisiert. Vor zehn Jahren, am 4. Dezember 2001, wurde die erste Pisa-Studie veröffentlicht.

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Fordert, dass mehr Ressourcen in die Grundschulen verlagert werden: Pisa-Koordinator Andreas Schleicher. Foto: Hans Peter Schaefer / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

In einem Interview mit dem „Handelsblatt“ sagte Schleicher, in den letzten Jahren habe sich das Tempo der Veränderungen verlangsamt. Dabei gebe es in Deutschland – trotz wichtiger Fortschritte – „weiter großen Nachholbedarf beim Thema Chancengerechtigkeit“.

Erfolgreiche Bildungssysteme antworten auf verschiedene Interessen, Fähigkeiten und soziale Kontexte der Schüler nicht mit Klassenwiederholungen oder einem gegliederten Schulsystem. Das ist auch von zentraler Bedeutung, um die Leistungsspitze besser zu fördern, wo es in Deutschland ebenfalls hapert“, sagte Schleicher dem „Handelsblatt“. Daneben sei der Übergang zu kompetenzorientiertem Lernen entscheidend. Die Reproduktion von Fachwissen, das man Schülern leicht im Gleichschritt vermitteln könne, reiche nicht mehr. Schleicher würdigte den auch durch die sinkenden Schülerzahlen beförderten Trend zur Zweigliedrigkeit in Deutschland. Dies sei ein „wichtiger Schritt zum Abbau institutioneller Barrieren, die letztlich Lernen hindern und Chancenungerechtigkeit vergrößern“.

Dass Deutschland bei den Bildungsausgaben international lediglich im Mittelmaß rangiert, stört den OECD-Koordinator dagegen vergleichsweise wenig. „Qualität von Unterricht ist wichtiger als Rahmendaten wie Klassengrößen oder Unterrichtszeit“, sagte er. Es komme mehr auf die richtige Verteilung der Mittel an. Schleicher: „Wichtig ist auch, dass mehr Ressourcen in die Grundschule verlagert werden, wo die Grundlagen gelegt werden. Äußerst fragwürdig ist hier, dass in Deutschland im Kindergarten eine im OECD-Vergleich hohe private Kostenbeteiligung fester Bestandteil der Finanzierung ist, während Gebühren an der Hochschule kaum eine Rolle spielen.“

Schavan: „Die Bildungspolitik hat konsequent gehandelt“

Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) würdigte die Reformfortschritte im deutschen Schulwesen seit Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie vor zehn Jahren. „Dieser Schock war heilsam und hat dem deutschen Bildungssystem gutgetan. Das zeigt sich an den Ende 2010 veröffentlichten neuesten Pisa-Ergebnissen: In Mathematik und den Naturwissenschaften liegt Deutschland inzwischen deutlich über dem OECD-Schnitt, auch bei der Lesefähigkeit haben wir uns spürbar verbessert“, schrieb sie in einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt“. Besonders erfreulich sei, dass vor allem schwächere Schüler deutlich aufgeholt hätten und die Anzahl der Schulabbrecher zurückgegangen sei. Schavan: „Die Bildungspolitik hat konsequent gehandelt: Frühkindliche Sprachförderung ist  inzwischen anerkannter Standard. Verstärkte Ganztagsangebote haben nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch den Zugang zu Bildungschancen verbessert.“

Die Fortschritte seien jedoch kein Grund,  „sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Der Schwung, den diese internationale Vergleichsstudie ausgelöst hat, darf nicht erlahmen“.  Im Zeitalter der Globalisierung werde von Deutschland verlangt, im internationalen Wettbewerb schneller und innovativer zu sein als andere.  Dazu passe es nicht, dass Lehrer, Eltern und Schülern zunehmend über Mobilitätshindernisse klagten. „Pro Jahr ziehen 80.000 Schülerinnen und Schüler innerhalb Deutschlands um. Schon deshalb brauchen wir mehr Vergleichbarkeit der Bildungsstandards und Schulabschlüsse zwischen den Ländern. Ein wichtiger Schritt ist die Vereinbarung einiger Länder, sich auf den Weg zu einem Deutschland-Abitur zu machen. Und es sollte auch ohne jeglichen Verlust an föderaler Eigenständigkeit möglich sein, die etwa 100 Schulbezeichnungen in Deutschland deutlich zu reduzieren“, schrieb Schavan. „Föderalismus kann nicht bedeuten, dass jeder macht, was er will, sondern dass Vergleichbarkeit ermöglicht wird.“

Darüber hinaus erwartet Schavan von den Bundesländern, dass diese den zu erwartenden Rückgang der Schülerzahlen nicht zu einer Kürzung der Mittel für die Bildung nutzen. „Im Gegenteil: Die sogenannte demografische Rendite muss im Schulsystem bleiben und  vor allem zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit eingesetzt werden“, forderte die CDU-Politikerin. Der zu erwartende starke Rückgang der Schülerzahlen sollte deshalb keinen politischen Verantwortungsträger in Versuchung führen, bei der Bildung zu kürzen.

Kraus: „Verengter Bildungsbegriff“

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, zog eine „durchwachsene Bilanz“ der Pisa-Studie. „Es war gut und überfällig, dass das Thema Bildung unter anderem durch die Pisa-Debatte wieder in die Schlagzeilen und auf vordere Plätze der politischen Tagesordnung kam“, sagte er. Auf der anderen Seite aber werde durch die Diskussion das Verständnis von Bildung fortschreitend verengt. „Im Zuge dieser Debatte wurde völlig vernachlässigt, dass Pisa weite Bereiche schulischer Bildung überhaupt nicht erfasst – nämlich das Wissen und Können der Schüler im sprachlichen Ausdrucksvermögen sowie etwa in den Bereichen Literatur, Geschichte, Geographie, Politik, Religion/Ethik, Kunst, Musik und dergleichen.“ Die Folge: Diese wichtigen Bildungsbereiche würden kaum mehr wahrgenommen, und selbst schulische Prüfungsverfahren seien auf Pisa-Testmethoden getrimmt worden. Kraus: „Der Politik ist dringend zu empfehlen, dass sie die Debatte um Pisa tiefer hängt.“ NINA BRAUN

Zum Kommentar: „Auf einem guten Weg – dank Pisa“

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Merve
12 Jahre zuvor

Diese Analyse zeigt deutlich, dass hinter PISA ein sehr komplexes Rechenmodell steckt und die Ergebnisse von vielen Faktoren abhängig sind. Ich verstehe nicht, warum man diese Tatsache nicht ansprechen darf und Nachanalysen nicht f6rdert. Zur Interpretation von PISA ist ganz allgemein folgendes zu bemerken: Das Schulsystem ist ein sehr langsam reagierendes System, abrupte Änderungen in den Ergebnissen sind daher grundsätztlich zu nhtierfragen. Die Erklärung, dass die 6sterreichischen SchülerInnen innerhalb von drei Jahren deutlich schlechter werden ist meiner Meinung nach nicht stichhaltig, wenn man keine Änderungen in den Systemparametern (zum Beispiel Zusammensetzung der SchülerInnenpopulation) als Erklärung anbieten kann.Es wäre hoch an der Zeit, dass man rational über die Mängel und Probleme unseres Schulsystems diskutiert und ob es für die heutige Zeit noch adäquat ist.