Hirnforschung beflügelt den Unterricht

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TROISDORF. Was bedeutet die neurowissenschaftliche Forschung für die Unterrichtspraxis? Diese Frage wird auf der Bildungsmesse „didacta“, die vom 14. bis 18. Februar in Hannover stattfindet, diskutiert. Renommierte Hirnforscher wie der Göttinger Neurobiologe  Prof. Gerald Hüther treten dort auf. Die Schulen in der Gemeinde Troisdorf nahe Köln holen sich bereits Unterstützung aus der Hirnforschung. Sind sie Vorreiter einer neuen Bewegung? Ein Ortsbesuch.

• Pädagogen sind „Wissensvermittler“.
• Lernen bedeutet Aneignung von Wissen.
• Es gibt Zeiten des Lernens sowie des Nicht-Lernens.

Das sind drei große Irrtümer, von denen sich Schulen, wenn es nach der Hirnforschung geht, verabschieden sollten. „Die meisten Menschen verbinden Lernen mit Büffeln und Pauken, mit Prüfungen und mit Stress“, sagt Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer. „Es ist ein verbreiteter Unsinn zu glauben, man könne seine Zeit einteilen in Perioden des Lernens und in Perioden der Freizeit. Denn das Gehirn lernt immer.“ Um seine Erkenntnisse in die Unterrichtspraxis einfließen zu lassen, hat Spitzer an der Universität Ulm das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen gegründet. Der neue Lehrer soll nach dessen Verständnis zum sogenannten Lerncoach werden, zum Begleiter von Lernprozessen. Der Lernende dagegen soll selber aktiv werden, damit im Gehirn Gebrauchsspuren entstehen. Grundlage dafür ist, die Rolle des Lehrers und des Schülers neu zu definieren.

Psychatrieprofessor Manfred Spitzer: "Das Gehirn lernt immer."; Foto: Liz Henry / Flickr (CC-BY-ND-2.0)
Psychatrieprofessor Manfred Spitzer: "Das Gehirn lernt immer."; Foto: Liz Henry / Flickr (CC-BY-ND-2.0)

Troisdorf im nordrhein-westfälischen Rhein-Sieg-Kreis. Die 76.000 Einwohner große Stadt liegt verkehrstechnisch günstig zwischen den Großstädten Köln und Bonn. Troisdorf wirkt wie eine Pendlerstadt mit Durchgangsstraße, verschlafen und ruhig. Der Eindruck täuscht. Wenn es um Schulentwicklung geht, spielen die 22 Schulen ganz vorne mit. Bis 2008 war der Kreis Modellregion im Projekt „Selbstständige Schule“, jetzt nehmen rund 400 Troisdorfer Lehrer, jeder zweite Pädagoge in der Stadt, an der Weiterbildung des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen zum Lerncoach teil.

Ein Dienstag im Mai, 11 Uhr, Gesamtschule Troisdorf. Markus Meyer unterrichtet in der 7e Deutsch. „Gut sein“ ist das Motto der Arbeitsstunde, übersetzt heißt das selbstorganisiertes, sinnstiftendes Lernen. Gearbeitet wird an einem Jugendroman. Die Ziele der Unterrichtsreihe sind in einem Kompetenzraster festgelegt, das jeder Schüler bekommen hat. Die Lernwege dahin gestalten sie selber. Der 13-jährige Marius hat aus einem Repertoire an Lernwegen seine Art der Bearbeitung ausgewählt. Erst hat er für seine Tischnachbarin den Inhalt eines Romanausschnitts zusammengefasst, jetzt malt er ein Bild dazu. Die Abwechslung gefällt Marius. Pädagoge Meyer erklärt, was dahinter steckt: „Darstellung in allen möglichen Formen führt dazu, dass die Inhalte besser behalten werden. Denn Lernen erfordert Transformation, die Information muss umgeformt werden – etwa Texte in Zeichnungen, Zeichnungen in Vorträge, Vorträge in Comics.“

Meyers Unterricht beruht auf der Erkenntnis der Hirnforschung, dass Lernen sich weitgehend der Fremdsteuerung entzieht. Der Mensch lernt selbst und ständig. Schulische Arrangements sollten deshalb den Lernenden ermöglichen, aus eigenem Antrieb aktiv zu werden. Der Lehrer muss, um der Rolle als Lerncoach gerecht zu werden, Kontrolle abgeben. Schüler müssen Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln. Bei Meyer wird anhand der Mitarbeit im Unterricht und anhand der Lernfortschritte benotet. Seine Schüler tasten sich jetzt vorsichtig an die verschiedenen Ausdrucksformen heran. Sie halten sich aber noch hauptsächlich an bekannte Dinge, wie Lernplakate und PowerPoint-Präsentationen. Nur David wagt sich im Biologieunterricht in der siebten Klasse etwas weiter vor. Um Quallenarten zu erklären, synchronisiert er eine Szene aus dem Trickfilm „Findet Nemo“ neu.

Unstrittige Erkenntnisse der Hirnforschung sind: Lernen ist ein Prozess, in dessen Verlauf es im Gehirn, aufbauend auf schon vorhandenen Verbindungen, zu neuen neuronalen Verbindungen kommt. Allerdings nur, wenn bestimmte Bedingungen vorliegen. Dazu gehört, dass Schüler das zu lernende Material für sich als bedeutsam erachten. Dann schüttet das Gehirn den neuroplastischen Botenstoff Dopamin aus. Ebenso hat der emotionale Kontext Einfluss auf die spätere Erinnerungsleistung. Das heißt, es werden diejenigen Dinge am besten erinnert, die in einem gefühlsmäßig positiven Zusammenhang eingespeichert wurden. Oder, um es in der Sprache des Neurowissenschaftlers Spitzer auszudrücken: „Lernen bedeutet die Modifikation synaptischer Übertragungsstärke. Solche Modifikationen finden nur an Synapsen statt, die aktiv sind. Das Ausmaß des Behaltens von Material ist abhängig davon, wie sehr wir uns dem Material zuwenden.“

Bietet die Hirnforschung damit Lösungen für pädagogische Schwierigkeiten im Alltag? Kritiker, wie die Psychologieprofessorin Elsbeth Stern von der Technischen Hochschule in Zürich, bestreiten das. „Nur weil wir einen neuen Transmitter im Gehirn entdecken, wissen wir immer noch nicht, wie wir Mathematik besser vermitteln können“, sagt sie. Auch Lehrer Meyer schränkt die Möglichkeiten ein. „Die Erkenntnisse der Hirnforschung können helfen, pädagogischen Zielen neue Bedeutung zu verschaffen.“ Aber guter Unterricht müsse weiterhin pädagogisch begründet werden anstatt mit Dopaminausstoß. Die wissenschaftliche Debatte darüber, was die Hirnforschung zu leisten vermag, ist im vollen Gang. Fest steht aber heute schon: Die Hirnforschung kann, ebenso wie die Kognitionspsychologie, die Biologie, die Sozialpsychologie und die Pädagogik, ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Lernforschung liefern. Die neurowissenschaftliche pädagogisch relevante Lernforschung steht aber noch am Anfang.

Lehrer als Lerncoach und Gestalter von Lernsituationen

Am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen ist das Konzept des Lerncoachs in einem interdisziplinären Team aus Pädagogen, Naturwissenschaftlern und Psychologen entstanden. Es besagt: Der Lerncoach strukturiert Lernorte, schafft Lernanlässe, regt Lernende dazu an, aus etwas Fremden etwas Eigenes zu machen, bieten ihnen Orientierung darüber, was sie sind und was sie können, trifft Vereinbarungen, lässt offene und bedürfnisgerechte Arbeitsformen sowie Interaktion und Beteiligung zu.

Offene, bedürfnisgerechte Arbeitsformen: Ein paar Straßen von der Gesamtsschule Troisdorf entfernt, gehört das für die achtjährige Cindy und die neunjährige Eva in der Grundschule Eschmar zum Alltag. „I would like to have the red apple for breakfast“, rezitiert Cindy und schiebt ihre Puppe auf der kleinen Pappbühne hin und her. Die beiden Mädchen spielen Kamichibai-Theater, eine japanische traditionelle Theaterart. Damit lernen sie die nächsten Englischvokabeln. Draußen fahren Nils und Jan mit ihren selbstgebastelten Erfindungen über den Flur. Aus Alufolie, Kartons, einer Fernsteuerung und Schwämmen haben die beiden Putzmaschinen gebaut. Eine Etage höher hängen Jasper und Alex ihr Plakat ebenfalls zum Thema Erfindungen auf. „Wusstest Du, dass Martin Huper 1928 das erste kabellose Telefon gebaut hat?“, fragt der achtjährige Jasper seinen Partner. Alex nickt. Die beiden arbeiten konzentriert, obwohl in der Schule alle Klassentüren offen stehen und immer wieder verschiedene Kinder vorbeilaufen. Die zehn Lehrer der Schule organisieren und stehen bereit, wenn die Kinder Fragen haben. Ansonsten halten sie sich aber im Hintergrund. Für Lehrer wie Kinder ist diese Arbeitsweise hier selbstverständlich.

Sich vom lehrerzentrierten Unterricht zu verabschieden, daran arbeitet auch Meyer. Der Pädagoge bewegt sich energiegeladen in der Schule und verwickelt immer wieder Kollegen in Fachgespräche. Meyer ist engagiert. Und das endet nicht an der Schultür: Nebenbei unterrichtet der 36-Jährige an der Universität und arbeitet an seiner Habilitation in Sprachwissenschaft. In Meyers „Gut-sein“-Stunde in der 7e geht es dennoch bodenständig zu. Und so lebendig er vor dem Unterricht war, umso zurückhaltender wird er in der Klasse. Seine Schüler arbeiten in drei Gruppen. Eine Gruppe in Einzelarbeit, eine Gruppe in Viererteams und eine Gruppe fertigt gemeinsam eine Präsentation am Smartboard, einer interaktiven Tafel, an. Die Sitzordnung in seiner Klasse bildet das selbstständige Arbeiten ab und regt die Schüler dazu an, zusammen zu arbeiten. Meyer hält sich dabei konsequent raus: Auf Nachfragen der Schüler verweist er erstmal an die Gruppe. „Der Fokus der Schüler muss weg von der Lehrperson. Denn ich glaube, ein Hirnareal ist ständig damit beschäftigt, was der Lehrer gerade macht, in welcher Stimmung er gerade ist, was er will. Wenn ich mich da rausziehe, wird ganz viel Energie frei.“ Und eben das ist der Weg, den auch der Neurowissenschaftler Spitzer empfiehlt. Der Lerncoach sollte, um optimale Ergebnisse zu erzielen, seine Rolle als Begleiter wahrnehmen, als Gestalter von Lernsituationen, der Lernenden zum Erfolg verhilft.

„Dafür müssen jahrelang eingeübte Handlungsmuster geändert werden“, sagt Michael Fritz, Geschäftsführer des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen, der die Weiterbildung zum Lerncoach begleitet. Und dabei spielt die Hirnforschung eine wesentliche Rolle. Für erfolgreiche Lernsituationen kann sie eine wissenschaftliche Begründung liefern. Das ist wichtig, denn „wir ändern unser Verhalten erst, wenn wir davon überzeugt sind“, sagt Fritz. Meyer bestätigt das. Denn obwohl die Erkenntnisse der Forschung ihm bekannt seien, sei die Weiterbildung sinnvoll, um Veränderungen gemeinsam und langfristig zu entwickeln. „Wir Lehrer tun sonst nicht, was wir wissen“, bedauert er. Eine Organisation wie eine Schule könne sich eben nur so weit verändern, wie das Denken und Handeln der beteiligten Personen sich verändere, sagt Fritz. Die Weiterbildung zum Lerncoach ist deshalb so aufgebaut, wie die Experten es den Lehrern für ihre Schüler empfehlen. Durch die Einbindung von neuem Wissen sollen die Lehrer ihr Handeln aus eigenem Antrieb heraus verändern. Die Lehrer nehmen freiwillig an den Kompaktseminaren teil, von den Wissenschaftlern bekommen sie Instrumente und Hintergrundinformationen, die Umsetzung in die Praxis muss selber organisiert werden. Damit bereiten sich die Lehrer auf einen Unterricht vor, den sie selber nicht kennen. Gesamtschullehrer Meyer sagt: „Sich von den gewohnten Mustern zu verabschieden, davon alles vorzugeben und zu kontrollieren, fällt schwer.“

Um als Lehrer nicht wieder in alte Muster zu verfallen, ist außerdem die soziale Eingebundenheit bedeutsam. In Troisdorf treffen sich die Lehrer der Schulen deshalb regelmäßig, um neue Vorhaben abzustimmen. Grundschullehrerin Irena Arlt von der Grundschule Eschmar hat eigene Erfahrungen damit gemacht. Die 34-Jährige ist vor sieben Jahren aus Rheinland-Pfalz nach Nordrhein- Westfalen gezogen. Am Anfang sei die Arbeit in der Troisdorfer Schule ein Kulturschock gewesen, gesteht sie. „Hier wurden auf einmal keine Diktate mehr geschrieben und ich konnte mich nicht mehr an den Schulbüchern entlanghangeln“, sagt sie. Arlt musste ihren bisherigen lehrerzentrierten Unterricht auf offene Unterrichtsformen umstellen. Das verunsicherte sie anfangs sehr. „Es war eine harte Zeit, denn ich wusste nie, ob das, was ich mache, ausreicht.“ Allein hätte sie das nicht geschafft. Sie suchte sich Kollegen, mit denen sie sich austauschen konnte, holte sich Anregungen. Vier Jahre habe sie gebraucht, um sich freizuschwimmen, erzählt Arlt. Keine unkomplizierte Aufgabe, der sich die Troisdorfer Lehrer jetzt stellen. Grundschullehrerin Arlt ist aber von dem Nutzen überzeugt: „Man muss loslassen können und ist letztlich näher an der Entwicklung der Kinder“, sagt sie. Die Rolle des Lehrers und des Schülers ändern, das klappt in den Troisdorfer Schulen schon gut. Neben all den naturwissenschaftlichen Fakten hat die Hirnforschung aber vor allem etwas bestätigt, was schon immer gilt: Ein Mensch macht seine Sache gut, wenn er eine Sache mit Freude macht, er den Dingen aus eigener Motivation nachgeht und sich gut auskennt. „Lehrer sollten deshalb“, sagt Psychiatrieprofessor Spitzer, „soweit wie möglich selbst bestimmen können, wann sie was mit ihren Schülern bearbeiten.“ NINA BRAUN

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