Bildungsstudie: Zu wenig Chancen für benachteiligte Kinder

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GÜTERSLOH. Wie gerecht und leistungsstark sind die Schulsysteme der 16 Bundesländer? Das fragt eine neue Bertelsmann-Studie. Ergebnis: Chancengerechtigkeit und Leistungsstärke sind vereinbar, aber kein Land ist überall spitze.

Die Bertelsmann-Stiftung hat sich des Themas Chancengerechtigkeit angenommen. Foto: Greg Westfall / Flickr (CC BY 2.0)
Die Bertelsmann-Stiftung hat sich des Themas Chancengerechtigkeit angenommen. Foto: Greg Westfall / Flickr (CC BY 2.0)

Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen, unterscheiden sich laut Untersuchung von Bundesland zu Bundesland deutlich. Das zeigt der „Chancenspiegel“, mit dem die Bertelsmann Stiftung und das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund die Schulsysteme aller Bundesländer auf Chancengerechtigkeit untersucht haben. Ergebnis: Kein Land ist überall spitze, kein Land überall Schlusslicht – aber die Unterschiede zwischen den Ländern sind erheblich.

Die Studie bewerte Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der Schulsysteme in vier Dimensionen: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe. An ihnen lasse sich ablesen, wie integrativ Schulsysteme seien, ob sie soziale Nachteile wettmachten, Klassenwiederholungen und Schulabstiege vermieden, welche Lesekompetenzen sie vermittelten, wie viele Schüler sie zur Hochschulreife führten oder wie erfolgreich insbesondere Schulabgänger ohne oder nur mit Hauptschulabschluss seien, einen Ausbildungsplatz zu finden. Im Kern beschreibe die Untersuchung somit, wie die Schulsysteme der Länder mit Vielfalt umgingen: Inwiefern werden starke ebenso wie schwache Schüler gefördert? Werden diejenigen wirksam unterstützt, die schon bei der Einschulung benachteiligt sind?

„Die Bundesländer müssen deutlich mehr voneinander lernen.“ Das ist für Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung, die zentrale Schlussfolgerung aus den großen Unterschieden zwischen den Ländern. Das Ausmaß verdeutlichen einige Beispiele: In Sachsen-Anhalt sei der Anteil der Kinder, die auf einer separaten Förderschule unterrichtet würden und keinen Zugang zur Regelschule hätten, nahezu drei Mal höher als in Schleswig-Holstein. Und in Sachsen besuchten drei von vier Schülern eine Ganztagsschule, in Bayern nicht einmal jeder zehnte. „Hier bestehen Gerechtigkeitslücken, denn sowohl die Ganztagsschule als auch der Besuch einer Regel- statt einer Förderschule steigern die Bildungschancen“, sagte Dräger.

Ein regionales Gefälle zeigt sich auch im Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz, der in Bremen fast doppelt so hoch ist wie in Brandenburg. Eine Hochschulzugangsberechtigung erreichen in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, im Saarland und in Baden-Württemberg jeweils mehr als die Hälfte der Schüler – in Mecklenburg-Vorpommern nicht einmal 36 Prozent.

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IFS-Direktor Wilfried Professor Bos betonte, dass ausnahmslos alle Bundesländer Entwicklungsbedarf haben. „Wir hoffen, dass der ‚Chancenspiegel‘ die bildungspolitische Debatte um Chancengerechtigkeit in Deutschland zu versachlichen hilft“, sagte Bos. Wünschenswert für die Zukunft sei eine bessere und transparentere Datenlage. „Die Ergebnisse des ‚Chancenspiegels‘ können durchaus als Argumente für einen Wettbewerbsföderalismus verwendet werden. Dafür allerdings ist es unverzichtbar, die Vergleichbarkeit zu stärken. So wäre es zum Beispiel auch interessant, die Abschlüsse von inklusiv beschulten Kindern zu vergleichen mit den Abschlüssen von Förderschülern. Hier besteht noch Entwicklungspotenzial in der Datenbereitstellung der allgemeinen Statistik“, so warb Bos für eine größere Offenheit der Länder gegenüber vergleichenden Länderstudien.

Die Studie zeige auch, dass Schulsysteme in Deutschland durchaus fair und leistungsstark zugleich sein könnten. In Sachsen etwa sei das Schulsystem vergleichsweise durchlässig: Die Chancen für Kinder aus unteren Sozialschichten auf einen Gymnasialbesuch seien relativ gut, nur wenige Schüler blieben sitzen. Sachsen überzeuge aber nicht nur in dieser Gerechtigkeitsfrage, sondern auch bei der Kompetenzförderung. Sowohl die leistungsstärksten als auch die leistungsschwächsten Schüler gehörten deutschlandweit zu den Besten ihrer jeweiligen Vergleichsgruppe. „Leistung und Gerechtigkeit sind im Bildungssystem kein Widerspruch – und dürfen es auch nicht sein. Gute Bildungspolitik strebt beide Ziele gleichermaßen an“, sagte Dräger.

Weiter heißt es in der Studie: „Der Blick auf die Bündelung der Ergebnisse des Ländervergleichs zeigt sehr unterschiedliche ‚Chancenprofile‘ der 16 Bundesländer: Keines der deutschen Länder erreicht in allen vier Dimensionen Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe eine durchschnittliche Platzierung in der oberen Ländergruppe. Das Saarland erzielt gute Ergebnisse in den Dimensionen Durchlässigkeit und Zertifikatsvergabe – und liegt auch in der Integrationskraft und der Kompetenzförderung im bundesdeutschen Mittelfeld. Hamburg weist im Bundeslandvergleich sehr gute Resultate in den Dimensionen Durchlässigkeit und Zertifikatsvergabe aus, bietet seinen Schülern allerdings in der Kompetenzförderung nur schlechte Chancen. Auch Sachsen schafft in Sachen Durchlässigkeit und Kompetenzförderung den Sprung unter die erfolgreichsten 25 Prozent der deutschen Länder, hat allerdings zugleich insbesondere in der Zertifikatsvergabe Entwicklungspotenzial. Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen sind Länder, die mindestens einmal in der Spitzengruppe vertreten sind und bei keiner Dimension einen Platz in der unteren Ländergruppe belegen.

Kein Bundesland befindet sich in allen vier Dimensionen in der unteren Ländergruppe. Sachsen-Anhalt liegt zwar in den Bereichen Integrationskraft, Durchlässigkeit und Zertifikatsvergabe jeweils in der unteren Gruppe, schafft im Bereich der Kompetenzförderung allerdings gleichzeitig eine Platzierung unter den besten 25 Prozent der 16 deutschen Bundesländer. Berlin (Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe), Brandenburg (Integrationskraft und Kompetenzförderung) sowie Mecklenburg-Vorpommern (Integrationskraft und Zertifikatsvergabe) verzeichnen jeweils zweimal einen Platz in der unteren Ländergruppe.“

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pelayo
12 Jahre zuvor

Baden-Württemberg und Bayern also sind hauptsächlich in der „oberen Gruppe“ anzutreffen. Lassen wir doch der neuen Landesregierung noch etwas Zeit, damit sie endlich die beabsichtigte Gleichheit mit andernen Bundesländern der „unteren Gruppe“ herstellen kann.