Die Angst bleibt – Erfurt zehn Jahre nach dem Schulmassaker

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ERFURT. Ein Jahrzehnt ist es her, dass ein Ex-Schüler am Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen erschoss und sich selbst tötete. Es war der erste Amoklauf dieser Dimension an einer deutschen Schule. Menschen, die ihn erlebten, machen sich Sorgen: Es könnte wieder passieren.

Die Schüsse peitschen zwischen 10.58 und 11.10 Uhr durch das Schulhaus. Ein schwarz vermummter 19-Jähriger durchstreift mit tödlicher Präzision die Gänge, er schießt um sich, auch durch Türen, hinter denen sich Lehrer und Kinder verschanzt haben. 16 Menschenleben werden in diesen wenigen Minuten ausgelöscht, 12 Lehrer, zwei Schüler, die Sekretärin und ein Polizist sterben. 71 Patronenhülsen aus der Pistole des Täters finden die Ermittler in den Gängen und Klassenzimmern des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums. «Oft wünsche ich mir, das alles wäre ein Alptraum aus meiner Kindheit», sagt eine 23 Jahre alte Studentin. Als 13-Jährige ist sie am 26. April 2002 gemeinsam mit anderen Kindern vor dem Todesschützen aus dem Gymnasium geflohen.

Gedenktafel für die Opfer am Gutenberg-Gymnasium (Foto: Wikimedia)
Gedenktafel für die Opfer am Gutenberg-Gymnasium. Foto: CTHOE / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Sie kletterte über Zäune, bis sie weit genug weg war. Das Trauma des Schreckenstages holt sie manchmal noch ein. «Das ist dann purer Horror, auch wenn ich gelernt habe, damit umzugehen.» Wie der jungen Frau geht es zehn Jahre nach dem Massaker und kurz vor dem Gedenktag für die Opfer des Gewaltexzesses noch vielen Menschen, die das Morden erlebt haben oder als Helfer zur Schule eilten. «Dieser Tag hat sich ins Bewusstsein der Erfurter eingebrannt», sagt Oberbürgermeister Andreas Bausewein. Aber das ist es nicht allein. Die Bluttat des ehemaligen Gutenberg-Schülers Robert Steinhäuser nahm Deutschland etwas, worauf Generationen von Schülern, Eltern und Lehrern vertrauten: dass Schulen sicher sind.

Amokläufe hatte es bis dahin noch nie gegeben

«Wenn ich mich mit dem 26. April beschäftige, habe ich Angst, dass es immer wieder passiert», sagt Saskia, die die Erfurter Schultragödie als Teenager erlebte. «Damals war der Amoklauf etwas, was es bei uns noch nie gegeben hatte. Seitdem wird an Schulen immer wieder geschossen.» Die Chemiestudentin nennt die Amokläufe von Emsdetten 2006 und von Winnenden 2009. Sie spricht auch über ihr Entsetzen angesichts des Massenmords in Norwegen und die kalten Augen des Attentäters bei der Gerichtsverhandlung in Oslo. «Das alles macht mir Angst. Weil ich weiß, was es für die, die das erleben müssen, bedeutet.»

Während der Ablauf des Massakers am Gutenberg-Gymnasium längst akribisch dokumentiert ist, wird vor dem Jahrestag immer noch gerätselt, wie es so weit kommen konnte. War es der Schulverweis, der Zugang zu Waffen, die fehlende Information der Eltern, der Hass auf Lehrer, das komplizierte und angekratzte Ego von Steinhäuser? Oder ein explosives Gemisch aus all dem? Mit dem Abstand von zehn Jahren wird in Erfurt lebhafter, direkter diskutiert – auch über das Schicksal von Angehörigen der getöteten Lehrer oder die Forderung nach mehr Schulsozialarbeitern, die nicht nur Gutenberg-Direktorin Christiane Alt erhebt.
Hörbar ist auch der Ruf nach Korrekturen im Waffenrecht. Bausewein, Thüringens Bildungsminister Christoph Matschie und ehemalige Elternvertreter wie Harald Dörig wollen, dass die Waffen von Sportschützen in sichere Depots bei den Schützenvereinen kommen. «Wir müssen alles Menschenmögliche tun, um Amokläufe zu verhindern», sagt Matschie. Den Bildungspolitiker beschleicht ein «mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, dass so viele Waffen zu Hause in den Schränken stehen». Mit Sorge sieht er, «dass Konflikte heute schnell eskalieren und in Gewalt enden können».

Die ehemalige Gutenberg-Schülerin Saskia erinnert sich noch gut, wie sie vor zehn Jahren voller Schmerz und Verzweiflung mit tausenden Menschen bei der Trauerfeier auf dem Platz vor dem Erfurter Dom stand. «Warum wurde uns von Steinhäuser so viel Kindheit genommen», fragt sie. «Mit einem Schlag mussten wir erwachsen werden, uns mit Gedanken an den Tod herumschlagen.» Die heutige Schülergeneration des Gutenberg-Gymnasiums, das eine neue, breite Treppe zur Stadt hat, ist davon unbelastet. In der Schule mit den bunten Farben im Treppenhaus geht es laut und lebendig zu. Doch spätestens am 26. April, wenn wie vor zehn Jahren alle Erfurter Glocken läuten, kehrt die Vergangenheit zurück. «Verbunden mit der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Gewalt» steht auf der Tafel mit den Namen der 16 Opfer. SIMONE ROTHE/DPA

(19.4.2012)

Hier geht es zu weiteren Berichten zum Amoklauf in Erfurt:

Vor zehn Jahren: Schulmassaker am Gutenberg-Gymnasium

Erfurter Amoklauf: Rechtsprofessor fordert schärferes Wafffenrecht

Zehn Jahre nach Erfurt: Sechs Zeugen immer noch in Behandlung

Amok: Minister Matschie fordert schärferes Waffenrecht

Zehn Jahre nach Erfurt: Direktorin fordert mehr Hilfen für Schulen

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