Wissenschaftliche Studie: Pop-Musik klingt immer trauriger

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BERLIN. Wissenschaftler der Freien Universität Berlin (FU) haben in einer Studie analysiert, dass die erfolgreichsten Pop-Hits in den vergangenen 50 Jahren immer trauriger und vielschichtiger geworden sind – zumindest, wenn es um Tonart und Tempo geht. Dafür haben sie rund 1000 Popsongs aus den US-Charts der Jahre 1965 bis 2009 genau unter die Lupe genommen.

Popstar Rihanna deckt ein breiteres Gefühlsspektrum ab als frühere Interpreten. Foto: oouinouin from Nanterre, France / Wikimedia Commons (CC BY 2.0)
Popstar Rihanna deckt ein breiteres Gefühlsspektrum ab als frühere Interpreten. Foto: oouinouin from Nanterre, France / Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Ein Ergebnis: Die Anzahl der Hits in melancholischem Moll hat sich bis heute verdoppelt. Dafür deckten Rihanna oder James Blunt in ihren Songs ein breiteres Gefühlsspektrum ab als frühere Interpreten, sagt FU-Soziologe Christian von Scheve. «Dass die Lieder immer trauriger wirken, heißt aber nicht, dass wir nun alle mit hängenden Köpfen herumlaufen», ergänzt er. Selbst Krisenzeiten wie der Vietnamkrieg oder der 11. September hätten in den US-Charts keine belegbare Phase von reinen Heul-Songs hervorgerufen, wohl aber längere und langsamere Lieder.

Popmusik kann in die Beine gehen wie ABBAs «Waterloo» – ein rasantes Stück in D-Dur, mit dem sich die Schweden beim Eurovision Song Contest 1974 auf die internationale Bühne spielten. Für die Autoren der Studie ist das simple Musikpsychologie. Grundtonarten in Dur und ein hohes Tempo machen schnell happy. Langsame Moll-Stücke wirken ernster und trauriger. Solche Unterschiede lösen Reize aus: Popmusik kann Stimmungen erzeugen, von Freude bis Frust.

Steckt eine Systematik dahinter?

Die Idee zu ihrer Popmusik-Untersuchung kam dem deutsch-kanadischen Forscherteam beim Kaffeetrinken. Schellenberg ist nicht nur Professor in Toronto, sondern auch Musiker und Komponist. Vom Gefühl her erschien ihm moderne Popmusik trauriger als früher. Diese Einschätzung reizte den Berliner Soziologieprofessor von Scheve, der am FU-Forschungsbereich «Languages of Emotion» (Sprachen der Gefühle) arbeitet. Gemeinsam fragten sie sich: Steckt eine Systematik dahinter?

Die genaue Untersuchung der einzelnen Titel war harte Handarbeit. Studenten haben Lieder bis in ihre Einzelakkorde zerlegt und das Tempo in Beats per Minute (BPM/Schlägen pro Minute) nachgemessen. Dann ordneten sie die Songs nach Grundtonarten ein: Dur oder Moll? Wie lang? Ergebnisse lassen sich nun in Zahlen fassen. In den 1960er Jahren seien 85 Prozent der Titel in einer Dur-Tonart geschrieben gewesen, berichtet von Scheve. Heute sind es nur noch 42 Prozent.

Die Studie ergänzt frühere Untersuchungen. Diese ergaben zum Beispiel, dass Popsongtexte in den vergangenen Jahrzehnten selbstverliebter und negativer wurden. Wissenschaftler haben sich sogar die Personalpronomen vorgeknöpft und herausgefunden, dass seit den 80er Jahren häufiger «ich» als «wir» in Hit-Texten vorkommt – und mehr Wörter wie «Hass».

Von Scheve vermutet soziale Veränderungen als Ursache für gemischtere Gefühle, die Popsongs transportieren. «Emotionen werden heute anders wertgeschätzt, auch in ihrer Widersprüchlichkeit», sagt er und sieht zwei Trends: Einmal Modernisierungstheorien, nach denen Menschen in Industriestaaten Ambivalenzen heute stärker wahrnehmen. «Die Welt ist nicht mehr nur gut oder schlecht», erläutert er. Ihr Facettenreichtum werde bemerkt und akzeptiert, es gebe stärker die Idee eines Sowohl-Als-Auch.

Die zweite große Ebene, die Kunst und auch Popmusik beeinflusst, ist für den Wissenschaftler eine stärkere Hinwendung zu Gefühlen – seit rund 20 Jahren. Von Scheve nennt es eine Art Psychologisierung der Gesellschaft; samt Schlagworten wie emotionale Intelligenz oder Kompetenz im Arbeits- wie Privatleben. Noch in den 60er Jahren sei Rationalität über die Abwesenheit von Gefühlen definiert worden, betont der Forscher. Heute schreiben selbst Max-Planck-Forscher populäre Sachbücher über Bauchentscheidungen und Intuition.

Soziologen gehen davon aus, dass Popmusik immer einen Teil der gesellschaftlichen Entwicklungen widerspiegelt. Erst die poetischen Protestsongs von Bob Dylan in den 60ern, dann der perfekt inszenierte Mainstream-Pop von Michael Jackson in den 80ern – und in jüngerer Zeit gemischte Gefühlslagen wie James Blunts «You’re beautiful» aus dem Jahr 2006 – zwar in Dur, aber mit 82 BPM sehr langsam. Schnell und Moll funktioniert aber auch, zum Beispiel bei Rihannas «SOS» aus dem Jahr 2006 mit 137 BPM.

Und noch etwas Ungewöhnliches ist den Forschern aufgefallen: Die Popgeschichte der letzten 50 Jahre weist für sie erstaunliche Parallelen zur Entwicklung klassischer Musik auf. Sie war im 17. und 18. Jahrhundert eindeutig fröhlich oder traurig, haben andere Studien herausgefunden. Spätestens in der Romantik gab es die Tendenz zu verschiedenen emotionalen Färbungen in einer Komposition.

Bei seinem persönlichen Popmusik-Geschmack sieht sich von Scheve nach der FU-Untersuchung nun aber als «happy-Typen». Zu seinen Lieblingssongs aus den untersuchten US-Charts gehört «Fire» von den Ohio Players, 1975, Dur, 107 BPM. ULRIKE VON LESZCYNSKIi, dpa

(5.6.2012)

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