Fördern und Fordern: Projekt für Alleinerziehende im Berliner Brennpunkt

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BERLIN. Ein neues Projekt im Berliner Plattenbau-Bezirk Marzahn-Hellersdorf will jungen Alleinerziehenden den Weg in ein selbstständiges Leben ebnen – und droht mit Wohnungsverlust, wenn die Teilnehmer keinen Willen zeigen.

Plattenbau in Berlin Marzahn-Hellersdorf; Foto: jack_of_hearts_398/flickr (CC BY 2.0)
Plattenbau in Berlin Marzahn-Hellersdorf; Foto: jack_of_hearts_398/flickr (CC BY 2.0)

In den vergangenen Monaten ist Bewegung in Sandras Leben gekommen: Die 21-Jährige hat ihren Freund verlassen, ist mit ihrem Sohn Timo in eine Drei-Zimmer-Wohnung gezogen, für den Einjährigen hat sie einen Kita-Platz gefunden. Mit der neuen Perspektive hat sie auch einen Plan für sich selbst entwickelt: Sie will eine Ausbildung zur Verkäuferin machen. Wie 14 andere junge Alleinerziehende im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf nimmt Sandra an einem neuen Wohnprojekt teil. «Jule» (kurz für «Junges Leben») will erreichen, dass junge Mütter und Väter nicht das Leben ihrer eigenen Eltern leben: abhängig vom Staat, ohne Perspektive.

Das Besondere an «Jule»: Das Modellprojekt ist keine Idee des Sozialstaats, sondern eine der Immobiliengesellschaft Degewo, die in Berlin rund 71.000 Wohnungen verwaltet. In den Plattenbauten in Marzahn-Nord stellt das Unternehmen den Teilnehmern 15 frisch renovierte Wohnungen mit drei bis fünf Zimmern. Im Mai sind die ersten Bewohnerinnen eingezogen. An diesem Montag will der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) offiziell den Schlüssel übergeben.

Zwei vom Land bezahlte Sozialarbeiterinnen sind für die 18- bis 27-Jährigen da, helfen bei Bewerbungen, Ämtergängen, der Kinderbetreuung. Das Jobcenter im Bezirk und der Marzahn-Hellersdorfer Wirtschaftskreis unterstützen bei der Suche nach Ausbildungs- oder Praktikumsplätzen.

«Jule» setzt um, was eigentlich die Politik mit Hartz IV schaffen wollte: Fördern und Fordern. Ziel ist, dass die Alleinerziehenden nach drei bis fünf Jahren Schulabschluss und Ausbildung haben, vielleicht sogar ein Studium anpeilen. Sie sollen ihr Leben selbst finanzieren können, ein eigenes Einkommen haben und mit Geld umzugehen wissen. «Wer nicht den Willen hat, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, ist hier ganz klar falsch», sagt Marina Bikádi, eine der beiden Sozialarbeiterinnen.

Noch ist «Jule» ein Experiment, das die Degewo nicht nur aus Gutmenschentum ins Leben gerufen hat. Das Unternehmen will helfen – jungen Müttern und Vätern, aber auch sich selbst. Marzahn-Hellersdorf hat den größten Anteil an Alleinerziehenden in Berlin, darunter überdurchschnittlich viele junge Mütter unter 25 Jahren. «Viele von ihnen haben hohe Mietschulden, leben von Hartz IV, haben keine Ausbildung und keinen Schulabschluss», sagt Degewo-Sprecher Lutz Ackermann. «Wir wollen, dass sie im Bezirk wohnen bleiben, dass sie aber auch ihre Miete zahlen können.» Im jetzigen Projekt verzichtet das Wonhungsunternehmen auf einen Teil der Miete, den anderen trägt das Jobcenter.

Sandra lebte vor ihrem Einzug bei «Jule» mit Timos Erzeuger, wie sie ihren Ex-Freund heute nennt, zusammen. Sie stritten permanent, einen Job hatte keiner der beiden. «Für unter zehn Euro die Stunde ist er nicht arbeiten gegangen», sagt Sandra. Sein Sohn habe den 26-Jährige nicht interessiert. Wickeln, Flasche geben, spielen – dafür war Sandra allein zuständig. Vor Timos Geburt arbeitete sie in einer Bäckerei. Mit Kind und ohne Hilfe musste sie wieder von Hartz IV leben. «Ging halt nicht mehr», sagt Sandra.

Seit sie an dem Projekt teilnimmt, weiß die 21-Jährige, dass es gehen kann. Die Sozialarbeiterinnen beraten und weisen auf Alternativen hin. Vor allem aber treten die beiden den jungen Frauen immer wieder auf die Füße. «Das fehlte vorher», sagt Bikádi. «Da war keiner, der die jungen Leute wohin gestupst hat. Alle wollten etwas ändern, aber niemand hat gesagt: Jetzt geht es los.»

«Jule» verlangt, dass die Mütter und Väter etwas für sich tun, ihre eigenen Ziele nicht über Partnerschaft und Kind stellen. «Drei Jahre mit dem Kleinen zuhause bleiben, ist nicht», sagt die Sozialarbeiterin. «Wer sich bewirbt, muss das ganz klar wissen.» Mit Bevormundung oder betreutem Wohnen hat das Projekt nichts zu tun. «Wir schauen in keine Kochtöpfe und geben auch nicht vor, wer wann zu Hause zu sein hat», sagt Bikádi.

Der Plan funktioniert. Fast alle der 15 Teilnehmer haben seit ihrem Einzug einen Kita-Platz für ihr Kind gefunden und wissen, was sie ab September machen werden. «Wir können mit dem Projekt belegen, wie wichtig persönliches Engagement ist», sagt Bikádi. SARAH LENA GRAHN, dpa

(25.8.2012)

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