Lieber Unterricht als Zelle: Schule im Gefängnis

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ADELSHEIM/STUTTGART. Während sich Schüler im Südwesten über die Sommerferien freuen, beginnt das Schuljahr im größten Jugendvollzug des Landes gerade erst. Die Teilnahme am Unterricht bietet die Aussicht auf eine zweite Chance.

Fast jeder zweite Sträfling in Baden-Württemberg hat bei Haftantritt keinen Schulabschluss. Foto: Michael Coghlan/Flickr (CC BY-SA 2.0
Fast jeder zweite Sträfling in Baden-Württemberg hat bei Haftantritt keinen Schulabschluss. Foto: Michael Coghlan/Flickr (CC BY-SA 2.0

Zwei Schüler schwätzen, einer stört und einige folgen konzentriert dem Unterricht. Eine beinahe alltägliche Schulsituation – wäre da nicht die Mauer zwanzig Meter hinter dem Fenster. Die elf Realschüler sind verurteilte Straftäter und wollen ihren Abschluss in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Adelsheim (Neckar-Odenwald-Kreis) machen.

«Ihr wart doch alle schon vor Gericht. Wer hat euch da angeklagt», fragt Lehrer Hans-Peter Naumer. «Der Staatsanwalt», antwortet Mehmet, der wie auch die Mitschüler seinen echten Namen nicht nennen möchte. «Richtig, und verurteilt hat euch dann der Richter», erklärt Naumer die Gewaltenteilung mit einem für die Schüler praxisnahen Beispiel.

Fast jeder Zweite hat bei Haftantritt noch keinen Abschluss – weil er noch auf der Schule war oder weil er die Schule schon vorzeitig verlassen hatte. Vergangenes Jahr haben 58 Häftlinge in Adelsheim den Hauptschulabschluss erworben, 7 den Realschulabschluss und 49 absolvierten erfolgreich eine Berufsausbildung.

Schule und Ausbildung bieten Aussicht auf eine zweite Chance

Um die Berufschancen von Strafgefangenen zu verbessern, will Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) in den kommenden Jahren Schul- und Ausbildungsprogramme initieren, die den Häftlingen helfen sollen, eine zweite Chance zu bekommen. Neben Schulunterricht und Berufsausbildung seien Kontakte mit Wirtschaftsbetrieben beispielsweise über Sozialarbeiter wichtig für eine Perspektive nach der Haft, sagte Stickelberger. «Die beste Ausbildung und Berufsbildung nützt nichts, wenn sie später nicht erwerbstätig sein können.»

Mit der Möglichkeit, den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, sinke auch das Rückfallrisiko. Schon jetzt komme es vor, dass ein Häftling nach seiner Entlassung weiter für den Betrieb tätig ist, bei dem er im Gefängnis seine Ausbildung gemacht oder gearbeitet hat. «Er bekommt im Gefängnis plötzlich eine Perspektive, weil er sieht, dass er eine sinnvolle Arbeit leistet», sagte Stickelberger.

Im Schuljahr 2009/2010 haben 417 Gefangene in baden-württembergischen Gefängnissen einen Schulabschluss oder eine Berufsqualifikation erworben. Viele Strafgefangene hätten bei Haftantritt einen niedrigen Bildungsstand, Sprachschwierigkeiten und schlechte Erfahrungen mit der Schule.

«Das Hauptproblem ist die Motivation der Inhaftierten, sich einer Ausbildung zu unterziehen», sagte Stickelberger. Man müsse ihnen aufzeigen, dass sie nur eine Perspektive haben, wenn sie selbst etwas tun. «Eine Motivation kann natürlich sein, durch Lernbereitschaft eine günstige Sozialprognose zu bekommen, um eventuell vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden», meinte der frühere Verwaltungsrichter.

Weitere Herausforderungen im Gefängnisunterricht seien die unterschiedlichen Haftzeiten und Voraussetzungen, die die Häftlinge mitbringen. Darauf werde mit Aufbaukursen und halbjährig beginnenden Prüfungsvorbereitungen eingegangen. Dabei sei der Unterricht im Gefängnis nicht vom normalen abgekoppelt. «Wer bei uns den Hauptschulabschluss macht, hat die gleichen Prüfungen und den gleichen Lehrplan wie draußen», sagte der 61-Jährige. In der Justizvollzugsanstalt Freiburg können Inhaftierte das Abitur machen und in Verbindung mit der Fernuniversität Hagen sogar studieren.

Unterrichten mit Funkgerät und Alarmknopf

Knapp 5000 verurteilte Straftäter sitzen in baden-württembergischen Gefängnissen, 44 hauptamtliche Lehrer sind in den Haftanstalten im Einsatz – Stickelberger wehrt sich gerade gegen Stellenkürzungen. Es sei aber schwierig, Lehrer für den Schulbetrieb zu gewinnen. Sie müssten mit der besonderen Klientel und dem Unterrichten hinter Gittern umgehen können. «Diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit muss man erst einmal verarbeiten», sagte Stickelberger.

Disziplinierungsmaßnahmen machen das Unterrichten einfacher, sagt Hans-Peter Naumer über seinen Unterricht in dem aldelsheimer Gefängnis. In 33 Jahren habe er noch keine wirkliche Bedrohungssituation erlebt. Als ein Schüler vor einigen Jahren versucht habe, ihn anzugreifen, habe er diesen anschließend vor der Klasse schützen müssen. Die Lehrer tragen zudem Funkgeräte, um im Notfall Alarm schlagen zu können. Während des Unterrichts ist das Schulgebäude abgeschlossen, in einem Wachraum sitzen Justizbeamte.

Im Koch-Unterricht schneidet Robert, der wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung zu viereinhalb Jahren verurteilt wurde, Pilze für die Pizza. Sein Körper ist voll selbstgestochener Knast-Tattoos. Eines davon zeigt den Namen seiner Tochter. «Sie vermisse ich am meisten hier drin», sagt der 19-Jährige. Die Tat sei blöd gewesen, jetzt müsse er eben seine Strafe absitzen. Draußen ist er von der Schule geflogen, drinnen bietet sie willkommene Ablenkung vom Zellenalltag.

Am Ende der Kochstunde freut er sich, ein Stück Pizza und Erdbeeren mit auf die Zelle nehmen zu dürfen – mit einem Abschluss nimmt er am Ende seiner Haftzeit vielleicht die Chance auf eine bessere Zukunft mit in die Freiheit. dpa

(05.08.2012)

 

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