Trainieren für die Olympischen Spiele 2016

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ESSEN. Olympia in London ist Geschichte. Wir haben den Schüler Max Rendschmidt besucht, der dafür trainiert, bei den nächsten Spielen 2016 mit dabei zu sein.

Nach dem Training ist vor dem Training: Disziplin braucht Max nicht nur auf dem Wasser, sondern auch am Schreibtisch.Foto: Alex Büttner
Nach dem Training ist vor dem Training: Disziplin braucht Max nicht nur auf dem Wasser, sondern auch am Schreibtisch.Foto: Alex Büttner

Wenn Max aufwacht, schaut er auf eine Deutschlandfahne mit Autogrammen von Spitzensportlern und das Plakat, auf dem sich ein Kanute bei den Olympischen Spielen in Peking durchs Wasser bewegt. Weil das auch sein Ziel ist, beugt er sich um 6 Uhr dem hartnäckigen Klingeln des Weckers. Er schlüpft in einen Trainingsanzug, wirft sich die rote Sporttasche über die Schulter und geht – vorbei an Medaillen und Pokalen – aus dem Zimmer zum Frühstück. Dann fährt er mit dem Rad vom Essener Sport- und Tanzinternat zum Baldeneysee und trainiert drei Stunden, bevor die Schule beginnt. Max Rendschmidt, 18 Jahre, blondes Haar, leicht gebräunte Haut und breite Schultern, ist ein überragender Kanute: 2012 hat er es in die U23-Nationalmannschaft geschafft, er hat sechs deutsche und zwei Weltmeistertitel geholt und gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Olympischen Spiele 2016 in Rio.

Um es ganz nach oben zu schaffen, müssen die Sportler trainieren, trainieren, trainieren – und zwar von Kindesbeinen an. Aber die Jugendlichen sind nicht nur Athleten, sondern auch Schüler. Damit sie tägliches Training, Wettkämpfe und mehrwöchige Trainingslager mit der Schule unter einen Hut kriegen, besuchen fast alle – wie Max auch – eine „Eliteschule des Sports“. Das sind Verbundsysteme aus Schule, Wohnen und Sport: Die Jugendlichen wohnen häufig in einem Internat, trainieren im nahegelegenen Olympiastützpunkt und gehen auf weiterführende Schulen des Verbundes, egal ob Gymnasium, Haupt-, Realoder Gesamtschule. Um sich Eliteschule des Sports nennen zu dürfen, prüft der Deutsche Olympische Sportbund zum Beispiel, ob es qualifizierte Trainer gibt und ob Trainingsstätte, Schule und Wohnraum eng beieinander sind. Fünf der bundesweit 39 Verbundsysteme sind in NRW.

Sport und Schule gleichwertig

Max, der gebürtig aus Bonn kommt, ist seit fünf Jahren auf dem Sport- und Tanzinternat in Essen „zuhause“, wie er selbst sagt, und besucht derzeit die zehnte Klasse des Helmholz-Gymnasiums, das auf der anderen Straßenseite liegt. „Das Internat ist dafür da, dass Schule und Sport nebeneinander funktionieren“, sagt Geschäftsführer Horst Melzer und betont: „Bei uns werden beide Bereiche gleichrangig bewertet“. Als ehemaliger Trainer von Olympiateilnehmern und Weltmeistern weiß er, wie schwer es ist, Schule und Sport zu verbinden.

Wer das Internat betritt, den strahlen Olympiateilnehmer und Weltmeister bei Wettkämpfen und Siegerehrungen an, die auf XXL-Fotos die weiß gestrichenen Wände schmücken. Zeitungsartikel über die Internatsbewohner hängen in mehreren Schichten an den Stellwänden übereinander. In dem halbrunden Bau mit großzügigen Glasflächen verbergen sich nicht nur Arbeits-, Wohn- und Physioräume, sondern auch Frühstückssäle und Aufenthaltsbereiche mit roten Sofas, Kicker und Fernsehern. Neben Max wohnen in Essen noch weitere 49 junge Menschen zwischen 14 und 21 Jahren, jeweils in Doppeloder Dreibettzimmern. Dazu kommen 60 Teilzeitinternatsbesucher, die am Mittagessen und der Hausaufgabenbetreuung teilnehmen, aber bei ihren Eltern übernachten. Jeder, der aufs Internat will, muss Mitglied in einem Landes- oder Bundeskader sein, überregional besondere Leistungen erbringen und durch einen Fachverband vorgeschlagen werden. Die Vollverpflegung und Unterbringung im Doppelzimmer kostet 400 Euro, wobei gilt: Je besser ein Sportler ist, desto weniger zahlt er. Die Schüler müssen sich jedes Jahr erneut bewerben. „Dabei muss ein Aufwärtstrend im Sport und in der Schule zu erkennen sein“, sagt Melzer. Auch sonst gelten strenge Regeln: Um 22.30 Uhr ist Nachtruhe, wer sein Zimmer nicht aufräumt, hat Gartendienst, und wer das Haus verlässt, muss sich auf einer Tafel im Foyer eintragen.

In Essen trainieren vor allem Schwimmer, Ruderer und Kanuten. „Mal abgesehen davon, dass es die wenigsten ganz an die Spitze schaffen, können sie mit diesen Sportarten nicht ihr Leben bestreiten“, sagt Sabine Böcker, pädagogische Leiterin des Internats. Ziel sei deswegen der bestmögliche Schulabschluss. Böcker: „Sportliche Erfolge kann man nicht beeinflussen, die schulischen schon.“ Das weiß auch Kanute Max: „Die Schule muss sein. Ich brauche sie, weil ich später sonst keine Perspektive und Absicherung habe.“ Der Satz klingt nicht auswendig gelernt, sondern wie ein Mantra, das der 18-Jährige sich immer wieder vorgesagt und nun verinnerlicht hat.

Also geht er nach dem Frühtraining bis 16 Uhr zur Schule, dann folgt das zweite Training bis 18.30 Uhr und im Anschluss Hausaufgaben. Die Wochenenden verbringt er auf Regatten oder am Schreibtisch. „Mit Schule, Training und Fahrzeit habe ich eine 70- bis 80-Stunden- Woche“, sagt er. „Die Doppelbelastung mit Schule und Sport ist nur im Internat oder Teilinternat zu leisten“, betont Böcker. Dort nehmen die Schulen soweit wie möglich Rücksicht, und die Schüler haben einen „Rund-um-Service mit Nachhilfe“. Auf einer Tafel kann jeder eintragen, wann und wobei er Unterstützung braucht. Befreit werden die Athleten nur vom Sportunterricht, alle anderen Fächer sind Pflicht. „Die Freistellung bringt nicht viel, weil sie den Inhalt sowieso nacharbeiten müssen“, sagt Böcker. Es gehe um die effektive Organisation des Alltags. Das bestätigt auch Melzer: „Wir verkürzen Wege und gestalten den Tag so ökonomisch wie möglich.“ Um Schwierigkeiten vorzubeugen, tauschen sich Internat, Schule und Trainer ständig aus.

Bis Max nach Essen zog, ging er auf eine ganz normale Schule. „Bei geringem Trainingsaufwand ist das okay, aber ohne Sportinternat würde ich heute nicht in der Weltspitze mitfahren“, sagte er und schmunzelt verlegen, wenn er über seine Erfolge spricht. Sprüche wie „Du hast es gut, du hast schon wieder frei!“, hört er von Mitschülern kaum noch. Am Essener Helmholtz-Gymnasium gibt es in der Unterstufe eigene Sportklassen, in der Oberstufe stimmen die Athleten ihre Stundenpläne mit der Schulleitung ab. Die Kurse liegen so, dass sie keine Freistunden haben und nach Wettbewerben keine Klausuren schreiben müssen. Wenn Max längere Zeit im Trainingslager ist, hat er einen versiegelten Umschlag mit der Klausur im Gepäck und stimmt per Internet regelmäßig Aufgaben mit Lehrern ab. „Wenn ich drei Wochen im Trainingslager war, ist die vierte Woche für mich auch hartes Training, weil ich mich in die Schule einarbeiten muss“, sagt er und gesteht: „Das Nacharbeiten ist manchmal schon schwer.“ Dennoch scheint er nicht unzufrieden zu sein: „Ich habe es mir ja so ausgesucht.“

Bevor Max – müde vom langen Tag – um 22.30 Uhr das Licht ausschaltet, blickt er noch einmal auf die Deutschlandfahne und das Olympia-Plakat. Er schließt seine Augen und ruht sich aus, um seinem Traum von den Olympischen Spielen morgen wieder einen Schritt näher zu kommen. FRAUKE KÖNIG
(13.8.2012)

Zum Bericht: „Nach Olympia gerät der Schulsport in die Kritik“

Zuerst erschienen in: Forum Schule 2/2012

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