Berliner Grundschulreform gescheitert – Angst vor Inklusion wächst

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BERLIN (Mit Leserkommentaren). Klaus Wowereit (SPD) hat mit der schier endlosen Pannenserie um den Großflughafen Berlin eigentlich schon genug Ärger am Hals. Jetzt steht dem Regierenden Bürgermeister noch eine hitzige Schuldebatte ins Haus: Der Leistungsstand von Berliner Grundschülern hat sich mit der Reform von 2004 verschlechtert. Dies zeigt eine Analyse der Freien Universität Berlin für die Fächer Deutsch und Mathematik.

Kein guter Start ins neue Schuljahr: Klaus Wowereit (SPD). Foto: Oliver Wolters / Flickr (CC BY-SA 3.0)
Kein guter Start ins neue Schuljahr: Klaus Wowereit (SPD). Foto: Oliver Wolters / Flickr (CC BY-SA 3.0)

Die dabei federführenden Wissenschaftler um Prof. Hans Merkens vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie führen das Absinken des Leistungsniveaus auf die frühere Einschulung von Kindern zurück – und auf den Umstand, dass seit der Reform Kinder in altersgemischten Klassen unterrichtet werden. Die Studie hat eine Debatte um die Rahmenbedingungen für die anstehende Inklusion ausgelöst.

Insbesondere in Mathematik verzeichnen die Forscher eine verhältnismäßig große „Risikogruppe“ von Schülern: So hat sich die Situation beispielsweise für Kinder mit Migrationshintergrund verschlechtert, die von ihren Familien beim Lernen nicht unterstützt werden. Schwerer haben es auch Kinder, die früher wegen der fehlenden Schulreife zurückgestellt worden wären. Betroffen sind vor allem Kinder in Schuleinzugsgebieten mit hoher sozialer Belastung, die im Berliner Sozialatlas entsprechend gekennzeichnet sind. Zu diesen Schlüssen kommen die Wissenschaftler der Freien Universität nach dem Vergleich von zwei Datensätzen aus Längsschnitterhebungen an Berliner Grundschulen aus den Jahren 2002 bis 2006 sowie 2007 bis 2009. 

In Berlin wurde das Einschulungsalter im Jahr 2004 um ein halbes Jahr vorverlegt – damit liegt das durchschnittliche Alter von Erstklässlern in Berlin niedriger als im Bundesschnitt. Zudem werden im Rahmen der flexiblen Schulanfangsphase 1. und 2. Klassen jahrgangsgemischt unterrichtet: Es gehört zu den Anforderungen der ersten Unterrichtsjahre, die Schulfähigkeit herbeizuführen.

Von den Lehrkräften wird unter den neuen Bedingungen erwartet, Kinder mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gemeinsam zu unterrichten. „Für diese Aufgabenstellungen sind die Lehrerinnen und Lehrer nicht angemessen vorbereitet worden“, sagt Hans Merkens, „die Ergebnisse des Projektes lassen damit einen großen Bedarf für eine gezielte Personalentwicklung erkennen.“

Die Vorsitzende des Grundschulverbandes, Inge Hirschmann, unterstützt laut „Berliner Morgenpost“ diese Forderung. Es gebe zu wenig gute Fortbildungsangebote, sagt sie. In diesem Bereich müsse deutlich mehr investiert werden. Hirschmann weist darauf hin, dass bald an allen Schulen das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung umgesetzt werden soll. „Die Lehrer müssen deshalb lernen, mit heterogenen Gruppen umzugehen“, sagt sie. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) wollte sich dem Bericht zufolge zur FU-Studie nicht äußern. Ihre Sprecherin sagt, man werde sich die Ergebnisse erst einmal genau ansehen.

Brennpunktschulen in Berlin forderten seit Langem eine bessere Unterstützung. 2010 hätten sie erwirkt, dass sie wieder selbst entscheiden können, ob sie Jahrgänge mischen oder nicht. Mehr als 80 Grundschulen seien seitdem zu Jahrgangsklassen zurückgekehrt, berichtet die „Berliner Morgenpost“.

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Die Zahl der Familien, die ihr Kind lieber um ein Jahr zurückstellen lassen, als es bereits mit fünfeinhalb in die Schule zu schicken, ist in den vergangenen Jahren dem „Tagesspiegel“ zufolge angestiegen. Viele Eltern machten sich Sorgen, dass ihr Kind zu jung und deshalb im Unterricht überfordert sei. Im Jahr 2011 habe dies für knapp 2.300 Kinder gegolten. Auch der Anteil der Kinder, die für die Schulanfangsphase drei statt zwei Jahre brauchen, sei im Vorjahr auf 16 Prozent gestiegen, was 3.800 Kindern entspreche. Berlin sei das einzige Bundesland, in dem Kinder bereits im Sommer eingeschult werden müssen, wenn sie erst Ende Dezember ihr sechstes Lebensjahr vollenden.

Die FU-Studie hat laut Bericht Kritik am Berliner Sonderweg entfacht. Die Grünen wollen das Thema Früheinschulung jetzt ins Parlament bringen, heißt es. Landeselternsprecher Günter Peiritsch habe ebenso wie CDU und Grüne gefordert, den Kindern wieder mehr Zeit zu geben, um schulreif zu werden. Kinder schon mit fünfeinhalb Jahren einzuschulen, sei falsch. Die negativen Erfahrungen mit der Grundschulreform führten inzwischen dazu, dass die Furcht vor einer übereilten Einführung der Inklusion, also des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht-behinderten Schülern, und der damit einhergehenden Abschaffung der Förderzentren für Kinder mit Behinderungen um sich greife.

Forderung nach Fortbildungen

„Wer Reformen nur organisatorisch umsetzt und sie nicht mit Fortbildungen flankiert, wird scheitern“, so wird Studienleiter Merkens vom „Tagesspiegel“ zitiert. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Probleme mit der Grundschulreform plädierten Grüne und CDU dafür, die Inklusion nicht übereilt einzuführen, um die Schulen nicht noch mehr zu belasten. Erst müsse das Lehrpersonal dafür fit gemacht werden, mahnte Özcan Mutlu, Schulexperte der Grünen, der Zeitung zufolge. Andernfalls werde auch die Inklusion zum „Etikettenschwindel“. Die CDU warnte davor, die Förderzentren abzuschaffen. Mit einer „totalen Inklusion“ seien die Grundschulen überfordert.

FU-Grundschulpädagoge Jörg Ramseger habe ausdrücklich die Entscheidung von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) begrüßt, die Inklusion nicht schon in diesem Sommer einzuführen, heißt es im „Tagesspiegel“. Auch unter den Eltern wachse die Angst vor einer übereilten Reform. Gerüchte über schließende Förderzentren machten bereits die Runde und verunsicherten die betroffenen Eltern. Sie fragten sich, wie es gelingen solle, das Know-how und die Ausstattung der in Jahrzehnten entwickelten Förderzentren auf die Schnelle auf die Regelschulen zu übertragen. Der Druck auf Wowereit wächst. bibo (8.9.2012)

Zum Bericht: Elternverband: Inklusion überfordert Lehrer

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sofawolf
11 Jahre zuvor

Ich sehe keinen „Gewinn“ darin, Kinder früher einzuschulen. Warum ihnen ein Stück Kindheit rauben? Oder geht es darum, dass sie der Wirtschaft früher und länger zur Verfügung stehen??? … Wer dafür eintritt, dass (geistig) behinderte Kinder zusammen mit nicht (geistig) behinderten Kindern unterrichtet werden, also keine besondere Förderung mehr bekommen, der müsste doch auch dafür eintreten, dass 3- bzw. 2-gliedrige Schulsystem abzuschaffen und alle Kinder von der 1. bis zur 10. bzw. 12. Klasse gemeinsam zu unterrichten. Das höre und ich lese ich aber kaum.

karlotto
11 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

„Ich sehe keinen “Gewinn” darin, Kinder früher einzuschulen.“

Das mag für viele Kinder sicher stimmen. Schaut man sich jedoch an, unter welchen Bedingungen viele Kinder aufwachsen (Neudeutsch: bildungsferne Haushalte), kann für diese Kinder die Einschulung gar nicht früh genug kommen.

Blümchen
11 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

„Wer dafür eintritt, dass (geistig) behinderte Kinder zusammen mit nicht (geistig) behinderten Kindern unterrichtet werden, also keine besondere Förderung mehr bekommen, der müsste doch auch dafür eintreten, dass 3- bzw. 2-gliedrige Schulsystem abzuschaffen und alle Kinder von der 1. bis zur 10. bzw. 12. Klasse gemeinsam zu unterrichten.“ – Inklusion bedeutet nicht, dass eine „besondere Förderung“ nicht mehr gewährleistet wird. Das ist absolute falsch! Der Unterricht muss und wird sich verändern.
Übrigens geht es in der Inklusion nicht nur um behinderte Menschen, die in die „reguläre“ Gesellschaft mit aufgenommen werden. Das wäre Integration. Inklusion ist, wenn jeder (!) Mensch individuell mit seinen Stärken und Schwächen wahrgenommen wird. Und dabei muss – wie oft bemängelt – die Gemeinschaft aufgrund des Individualismus nicht verloren gehen. Im Gegenteil, man lernt durch konsequente Heterogenität besser mit sich selbst und dem Gegenüber umzugehen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Und ja, logische Folge der Inklusion ist die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems.

jan
11 Jahre zuvor
Antwortet  Blümchen

Ja, ja, ein schönes Märchen wird da unter dem Titel „Inklusion“ erzählt. Man berauscht sich immer wieder gern an dieser Vorstellung eines besseren, nicht-selektiven Bildungssystems und ist sich sicher, Befürworter einer neuen, kommenden, besseren Welt zu sein … und übersieht dabei, dass noch jedes kollektive Menschen-Umerziehungs-Programm in der realen Welt gescheitert ist. Wer aber werden die Opfer dieses neuen Umbau-Plans sein? Schüler, Eltern und nicht zuletzt natürlich die Lehrer, die schon heute immer öfter nicht mehr können und den bitteren Ausstieg aus ihrem einstigen Traumberuf gehen müssen.

sofawolf
11 Jahre zuvor

Kann man dieses Problem (s.o.) nicht einfach dadurch beheben (und ist man nicht bereits dabei), indem das letzte Kindergartenjahr verpflichtend, kostenfrei und für „erste Bildungsschritte“ genutzt wird!?!