Parabel-Flug: Forschen in Schwerelosigkeit – wie auf der Achterbahn

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BERLIN. Schweben wie ein Astronaut: Auf Parabelflügen können Forscher in Schwerelosigkeit experimentieren. Die Flüge sind ein rasanter Abstecher in eine surreale Welt und eine körperliche Grenzerfahrung.

Körperliche Grenzerfahrung: Schwerelosigkeit im freien Fall. Foto: jurvetson / Flickr (CC BY 2.0)
Körperliche Grenzerfahrung: Schwerelosigkeit im freien Fall. Foto: jurvetson / Flickr (CC BY 2.0)

Es ist fast wie eine Reise ins All. Blechern tönt das Kommando aus den Lautsprechern der Flugzeugkabine: «3, 2, 1, pull up». Dann hebt Kapitän Stéphane Pichené die Nase des Airbus. Die Passagiere in ihren schlumpfblauen Fliegeranzügen spüren ihr Gewicht plötzlich doppelt. 20 Sekunden zerrt fast die zweifache Schwerkraft an den Wangen, scheinen Hanteln an den eigenen Armen zu hängen.

Dann die erlösende nächste Durchsage: «injection». Binnen Sekunden fällt jedes Gewicht von den Mitfliegern ab, ihre Körper lösen sich ohne ihr Zutun vom Boden. Oben und unten gibt es nicht mehr. Spontan fangen viele an zu lachen. Sie hängen unter der Decke, rudern mit den Armen, stoßen wie Billard-Kugeln gegen die Kabinenwand. Schwerelosigkeit.

Nur wenige Menschen haben die Chance, dieses Gefühl zu erleben: als Astronaut – oder an Bord eines Parabelflugs, bei dem mit einem waghalsigen Flugmanöver für eine kurze Zeit die Erdanziehungskraft überlistet wird. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) bietet solche Flüge als fliegendes Labor für Forscher an.

Normalerweise starten diese Flüge im französischen Bordeaux – doch zum Abschluss der 20. Flugkampagne hat das DLR zwei Flüge ab Berlin organisiert. Am Horizont dämmert es langsam, als die Gruppe aus Wissenschaftlern, Journalisten und weiteren Gästen nahe dem Flughafen Schönefeld in einen Bus steigt. Viele gähnen und strecken sich. «Aufgeregt?», fragt eine Mitarbeiterin augenzwinkernd und verspricht: «Das wird ein Riesenspaß.»

In einem Konferenzzelt auf dem Gelände der Luftfahrtausstellung ILA stimmt DLR-Vorstandschef Johann-Dietrich Wörner auf den Flug ein. «Sie werden das hier erleben», kündigt er an, während hinter ihm ein Bild des Airbus A300 Zero-G der französischen Firma Novespace erscheint. Auf dem Foto zeigt die Nase des Flugzeugs steil nach oben.

Um Schwerelosigkeit zu erreichen, fliegt Kapitän Stéphane Pichené – ein französischer Testpilot mit kurz geschorenen Haaren, militärischer Haltung und olivgrünem Fliegerdress – eine Parabel. So ahmt er die Flugbahn einer Kugel nach, die schräg in die Luft geworfen wird. «Wenn man ein Objekt in die Luft wirft, ist es im freien Fall kurzzeitig schwerelos», erklärt der 50-Jährige.

Das Manöver startet auf 6000 Metern Höhe. Zwei Piloten ziehen den umgebauten Airbus A300 hoch, bis er etwa 47 Grad Schräglage erreicht – bei einem normalen Start sind es maximal 18 Grad. Dann kippen sie das Flugzeug nach vorne und steuern in einen fast ebenso steilen Sinkflug, bis sie das Flugzeug wieder abfangen. Gut 20 Sekunden herrscht dabei Schwerelosigkeit, davor und danach ebenso lange die doppelte Erdanziehungskraft. Eine Achterbahnfahrt im Himmel.

Vor dem Start gibt es die blauen Ganzkörperanzüge und Spritzen mit einem Mittel gegen Reisekrankheit. Ohne dieses Medikament, hat das DLR vorab informiert, werde jedem zweiten Erstflieger schlecht. Es hat aber noch eine andere Wirkung: «Da fühlt man sich, als hätte man Alkohol auf ex getrunken», erzählt eine DLR-Mitarbeiterin.

Der nächste Mann, der aus dem Ärztezimmer kommt, grinst breit und spreizt Zeige- und Mittelfinger beider Hände zum Victory-Zeichen. «Ich fliege schon», sagt er. Es ist der Running-Gag der nächsten Viertelstunde, während sich auf manchen Gesichtern ein verzückt-entrückter Ausdruck breitmacht.

Am Terminal steht der Parabelflug auf der Abfluganzeige zwischen Easyjet und Germanwings – Start: 9.00 Uhr, Flugnummer: DLR 1509, Ziel: Rundflug, Status: Boarding. Nicht nur Urlauber schauen fragend auf die blaue Karawane, die da an ihnen vorbeimarschiert, auch die Mitarbeiter an der Sicherheitskontrolle machen große Augen.

Über Vera Abelns Ausstattung schüttelt ein junger Sicherheitsmann mit blondierter Gel-Frisur ungläubig den Kopf. Die 29 Jahre alte Sportwissenschaftlerin aus Köln ist Testperson für ein Experiment und schon komplett verkabelt am Flughafen eingetroffen. Auf ihrem Kopf trägt sie eine weiße Kappe, darin einen Wust aus Sonden und Kabeln. Wenn sie auf einen Knopf drückt, leuchtet das Arrangement grün und rot. «So sehe ich eher aus wie ein Schlumpf, mit Licht wie ein Weihnachtsbaum», hat sie zuvor im Bus erzählt. Doch durch den Metalldetektor kommt sie mit dem Kabelsalat nicht – sie muss zur Nachkontrolle.

Auf dem Rollfeld wartet bereits die A300 Zero-G. Deren Kabine sieht vorne und hinten fast so aus wie in einem normalen Flieger. Die Sitze sind etwas abgewetzt, das graue Plastik der Klapptischchen vergilbt. Der mittlere Teil der Kabine erinnert hingegen an eine Mischung aus Sporthalle und gepolsterter Einzelzelle: Am Boden, an der Decke und an den Wänden sind weiße Schaumstoffmatten angebracht. Fangnetze unterteilen das Areal. Ein weiterer Effekt der Spritze macht sich bemerkbar, die Münder werden trocken.

Ein französischer Flugbegleiter in orangenem Fliegeranzug verteilt grinsend Spuckbeutel aus Papier. «Öffnen Sie ihn, bevor Sie sich übergeben», rät ein weiterer Mann in Orange, und fügt hinzu: «Das kann sehr schnell gehen.» Er hat noch einen weiteren guten Tipp parat – nämlich die benutzte Tüte vor der nächsten Parabel zu verschließen.

Eine halbe Stunde später ist es soweit. Die A300 fliegt über der Ostsee, die Flugsicherung hat den Luftraum gesperrt. Der Pilot kündigt die erste Parabel an. Die Anspannung ist spürbar, fast alle suchen sich einen Platz am Rand der Kabine, wo sie sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden setzen.

Der Countdown beginnt. «Don’t move your head», ruft jemand von der Crew. Es ist der Satz, den die DLR-Leute, der Flugkapitän und auch der begleitende Arzt den Passagieren eingetrichtert haben. Während der Hyper-Schwerkraft-Phasen werden die Härchen im Ohr nach unten gedrückt, sie signalisieren dem Gehirn daher: Du bewegst dich nicht. Wer nun den Kopf bewegt, dessen Augen melden das Gegenteil. «Und dann sagt das Gehirn dem Magen: Übergib dich», hat DLR-Chef Johann-Dietrich Wörner gewarnt.

Die erste Parabel ist eine Marsparabel. Dabei herrscht im Flieger die gleiche Anziehungskraft wie auf dem Roten Planeten, rund 40 Prozent der Schwerkraft auf der Erde. Novespace-Chef Jean-François Clervoy – der als Esa-Astronaut schon im All war – und andere erfahrene Parabelflieger hopsen sogleich durch die Kabine, Hoch- und Weitsprung sind plötzlich ein Klacks. Die Erstflieger sind etwas zurückhaltender, bewegen sich vorsichtig.

Begeisterung breitet sich aus

Trotzdem breitet sich Begeisterung aus: Als die plötzliche Leichtigkeit eintritt, ertönt ein kollektives «wow». «Ist das geil», ruft jemand. Als zweites folgt eine Mond-Parabel mit einem Sechstel der Erd-Schwerkraft, dann komplette Parabeln mit Schwerelosigkeit.

Vera Abeln ist mit mehr als einem Dutzend Flügen schon ein alter Parabel-Hase – aber für Luftsprünge hat sie keine Zeit. Sie hockt in dem Teil der Kabine, der den Wissenschaftlern und ihren Experimenten vorbehalten ist. Die Sonden an ihrem Kopf leuchten während der Parabeln grün, sie zeichnen ihre Hirnaktivität auf. Mit einer Serie von EEG-Untersuchungen will das Team der Deutschen Sporthochschule Köln herausfinden, wie das Gehirn sich in Schwerelosigkeit verhält.

«Astronauten haben immer wieder erzählt, dass sie im Weltall Schwierigkeiten hatten, sich zu konzentrieren», begründet Abeln. Erste Erkenntnisse gibt es bereits: «Aus früheren Studien können wir schon sagen, dass wir auf jeden Fall eine Zunahme der Hirnaktivität haben.» Außerdem verursache der Parabelflug Stress.

Gegenüber beugen sich der Tierökologe Christian Laforsch und seine Doktorandin Jessica Fischer über einen Bildschirm mit acht schwarzen Anzeigen, auf denen sich kleine helle Punkte bewegen. Es sind Kameraaufnahmen von Plexiglas-Behältern, die nebenan in einer verschlossenen Kiste stehen – wie alle Experimente an den Ecken gepolstert. Die Forscher untersuchen das Verhalten winziger Wassertiere in Schwerelosigkeit. Heute sind Daphnien, Triops und Ostrakoden – allesamt Krebstiere – sowie Büschelmückenlarven an Bord.

Surreale Welt der Schwerelosigkeit

Eine wichtige Frage: Fressen die Organismen sich weiterhin? «Das könnte dann auch für mögliche Marsmissionen relevant sein», sagt Christian Laforsch. «In der Zukunft könnten wir solche Organismen im All züchten – vielleicht sogar als Teil menschlicher Nahrung», sagt die Leiterin des DLR-Parabelflugprogramms, Ulrike Friedrich.

Die Wissenschaftler halten sich während der Schwerelosigkeitsphasen an Gurten fest, manche sind gleich ganz am Boden festgeschnallt. An jedem Experiment gibt es einen roten Notaus-Knopf. 14 Versuche waren während der zweiwöchigen Kampagne an Bord, an diesem Tag ist es nur eine Handvoll. «Diese Parabelflüge sind sehr wichtig für uns», sagt Christian Laforsch.

Hinten in der «free floating area» geht es dagegen weniger systematisch zu. In der surrealen Welt der Schwerelosigkeit verheddern sich Körper ineinander, es fällt schwer, die Folgen eigener Bewegungen abzuschätzen.

Der Mund fühlt sich inzwischen an, als sei man einen Tag durch eine Wüste marschiert. Die Digitalanzeige im vorderen Bereich der Kabine kündigt die 15. Parabel an. Zum letzten Mal heißt es: Augen geradeaus. Ein letztes Mal können die Mitflieger sich wie Astronauten fühlen, dann ertönt die Warnung: «pull out» – und alle plumpsen auf den Kabinenboden. Die Schwerkraft hat sie wieder in ihrem Griff. SEBASTIAN KUNIGKEIT, dpa
(20.9.2012)

 Hier gibt es die Anleitung für ein spannendes Experiment zum Thema Schwerelosigkeit für den Unterricht.

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