VBE fordert bundesweites Programm gegen PCB in Schulen

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NEUSS. Der Vorsitzende des Lehrerverbandes Bildung und Erziehung, Udo Beckmann, fordert ein Programm des Bundes gegen PCB. Noch immer sind viele Schulgebäude in Deutschland mit dem Giftstoff belastet. Kommunen zögern die teure Sanierung häufig hinaus. Ein Fall aus Neuss.

Schüler, Eltern und Lehrer demonstrierten in Neuss für eine Sanierung ihrer Schule - mit Erfolg. Foto: privat
Schüler, Eltern und Lehrer demonstrierten in Neuss für eine Sanierung ihrer Schule – mit Erfolg. Foto: privat

Um keine Zeit zu verlieren, verzichtete die Neusser Stadtverwaltung auf eine Ausschreibung und vergab erste Arbeiten zur PCB-Minderung vor den Sommerferien direkt. So wurden während der vergangenen Wochen in der betroffenen Grundschule Folien verklebt, die ein weiteres Ausdünsten des Giftstoffes vorerst verhindern sollten.

Aber wieso plötzlich die Eile? Die Belastung  der Dreikönigenschule, von der hier die Rede ist, mitPCB ist seit langem bekannt. In einem Gutachten wurde 2001 festgehalten, dass das betongraue Gebäude „mittelfristig“ zu sanieren sei. Vor allem die Dichtmasse in den Fugen wurde seinerzeit als Quelle ausgemacht. Auch wenn das Gebäude jetzt renoviert werde: Von „mittelfristig“ könne ja wohl keine Rede mehr sein – nach elf Jahren, sagt die Schulpflegschaftsvorsitzende Anja Lawrenz.

Das Papier schien ohnehin in der Versenkung verschwunden zu sein. Lehrer und Eltern seien jedenfalls in der ganzen Zeit nie ausführlich über die Belastung informiert worden, sagt Anja Lawrenz, selbst Mutter von zwei Kindern.  „Dabei hätte man die Werte durch Lüften und Putzen senken können. Aber wie sollte das geschehen, wenn keiner von dem Problem wusste?”, fragt sie.

So kam das Thema erst wieder auf die Tagesordnung, als sich im erweiterten Ganztag der Schule  der Elternvertreterin zufolge die Klagen von Schülern und Lehrern über üble Gerüche und „unspezifische Symptome“ wie Augenbrennen, Kopfschmerzen oder Erschöpfungszustände häuften. Sogar von Tumorerkrankungen war die Rede. Lawrenz hörte gerüchteweise von dem alten Gutachten und bat die Stadt um Aufklärung. Doch die Verwaltung mauerte zunächst. Sie gab das komplette Papier erst heraus, nachdem die Neusserin auf das Informationsfreiheitsgesetz pochte, das Bürgern umfassende Informationsrechte zugesteht, und sich Unterstützung durch den dafür zuständigen Datenschutzbeauftragten des Landes holte. Die Stadt spricht heute von einem Missverständnis.

Ratschlag: Regelmäßig lüften

Immerhin, die Verwaltung ließ das Schulgebäude erneut auf Schadstoffe untersuchen. Ergebnis: Sanierung unnötig. Die gemessenen Werte seien tolerabel, so lange regelmäßig gelüftet werde. Nicht einmal die Tatsache, dass bei Lehrern der Schule erhöhte PCB-Werte im Blut gemessen wurden – bei einer Lehrerin sogar zwei Drittel der Belastung, die als akut kritisch angesehen wird – focht den dazu von der Stadt beauftragten Gutachter, Prof. Ulrich Ewers vom Hygiene-Institut des Ruhrgebietes, an. Es sei höchst unwahrscheinlich, dass die Gesundheitsprobleme der Betroffenen mit PCB zu tun hätten, meinte er. „Aus den Ergebnissen der Blutuntersuchungen lässt sich ableiten, dass die untersuchten Personen (…) keiner höheren Belastung und damit keinem höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind als die allgemeine Bevölkerung“, so heißt es in seinem Bericht.

Das Gutachten sorgte allerdings nicht für die von der Stadtverwaltung erhoffte Ruhe. Im Gegenteil. Die Elternschaft zog Ewers‘ Schlussfolgerungen in Zweifel. In einer Unterschriftenaktion erklärten sich rund 3.000 Neusser Bürger mit der Schulpflegschaft, die eine unverzügliche Sanierung forderte, solidarisch. Vor dem Rathaus demonstrierten Schüler und Eltern der Dreikönigenschule. Der öffentliche Druck wurde so groß, dass Bürgermeister Herbert Napp (CDU) dann doch ein schnelles Handeln zusagte. Obwohl der Sprecher der Stadtverwaltung auch heute noch beteuert: Es seien in der Schule nie toxikologisch bedenkliche PCB-Werte gemessen worden. Die Belastung des Gebäudes sei auch nicht verschwiegen worden. Die Stadt arbeite seit Jahren daran, eine Liste von ursprünglich neun belasteten Schulgebäuden im Stadtgebiet „abzuarbeiten“; spätestens 2014 nun sollen alle Neusser Schulen weitgehend frei von PCB sein.

In Deutschland sind Polychlorierte Biphenyle, kurz PCB genannt, seit mehr als 20 Jahren verboten. Die Chlorverbindung wurde vor allem in den 70-er Jahren im Bau verwendet. Das Gift steckt zum Beispiel in Kabeln, Dämmstoffen oder Betonfugen. Experten warnen auch heute noch vor solchen Altlasten. PCB gelange über die Atemwege in den Organismus und könne den Körper schwer schädigen, heißt es. Der Stoff gilt als krebserregend und erbgutschädigend.

„Während die Giftigkeit von PCB in hohen Konzentrationen unstrittig ist, ist die mögliche Giftwirkung in niedrigen Konzentrationen sehr umstritten. Für diesen Bereich fehlen genügend wissenschaftliche Studien und damit die wissenschaftliche Absicherung“, erklärt der Chemielehrer und PCB-Experte Hans-Joachim Gärtner. Dennoch bleibe festzuhalten, dass sich selbst bei niedrigen Konzentrationen ein hochwirksames Gift in der Umwelt befinde, das es so weit wie möglich zu beseitigen gelte.

Gärtner: „Aus diesem Grunde sollten nicht Hysterie oder Panikmache im Vordergrund stehen, sondern die Minimierung dieser Umweltgifte.“ Dabei müsse berücksichtigt werden, dass Lehrkräfte mitunter über Jahrzehnte an einer Schule tätig seien. „Die PCB-Giftstoffproblematik ist zu lange bekannt und zu brisant, um einen Handlungsbedarf bei PCB-Konzentrationen oberhalb von 300 Nanogramm pro Kubikmeter Luft zu verneinen“, sagt der Fachmann. In Neuss waren Werte bis zu 2133 Nanogramm gemessen worden. Ab einer Belastung von 3000 Nanogramm sind laut nordrhein-westfälischem Bauministerium unverzügliche Maßnahmen erforderlich.

Ende der 90-er Jahre schätzten Experten, dass bis zu einem Drittel aller Schulgebäude in Deutschland mit dem Umweltgift belastet sein könnten. Mittlerweile sind etliche der betroffenen Schulen saniert – aber wohl längst nicht alle. Vor allem Gebäude, deren Belastung damals als zeitweilig tolerabel bezeichnet wurde, dürften noch immer auf ihre Sanierung warten. Alles andere wäre bei einem unlängst vom Deutschen Institut für Urbanistik errechneten Investitionsstau von bundesweit 27 Milliarden Euro bei Schulgebäuden und Kindergärten ein Wunder.  Tatsächlich wurden während der Sommerferien in Nordrhein-Westfalen wieder etliche Schulen wegen PCB-Belastungen saniert – in Wülfrath, Freudenberg und Ratingen beispielsweise. In Duisburg streiten sich Stadtverwaltung und die Lehrergewerkschaft GEW darüber, ob die Erkrankung von drei Lehrern an einer Förderschule auf ausdünstende Giftstoffe wie PCB zurückzuführen ist.

„Fakt ist, dass viele Schulträger diese Thema gerne mit der Argumentation an den Rand schieben, es bestehe keine akute Gefährdung“, sagt Udo Beckmann, Bundes- und Landesvorsitzender des Lehrerverbandes Bildung und Erziehung (VBE). So seien zwar die „ganz schwerwiegenden Fälle abgearbeitet“ worden. Viele Gebäude, deren Ausdünstungen unterhalb des in NRW geltenden Grenzwertes lägen, seien aber bis heute nicht saniert. Kein Wunder: Die Kosten sind hoch, für verschuldete Kommunen nicht selten kaum tragbar. Dabei wisse niemand, so  Beckmann, ob eine Dauerbelastung mit PCB auch in kleineren Dosen Erkrankungen wie Krebs hervorrufe. Die Verunsicherung unter Lehrern und Eltern sei jedenfalls groß. Es gehe nicht an, dass die Finanzsituation einer Stadt oder einer Gemeinde darüber entscheide, ob Schüler und Beschäftigte morgens unbesorgt zur Schule gehen könnten. Deshalb fordert der VBE-Chef „ein bundesweites Programm, um die Bausünden der Vergangenheit an Schulen und Kindergärten zu beseitigen“. Der Handlungsdruck sei groß.

Das sieht der Neusser Bürgermeister jetzt offenbar ähnlich. Wie Napp ankündigte, sollten nun auch die in gleicher Zeit wie die Dreikönigsschule entstandenen Gebäude von zwei benachbarten Schulen neu untersucht werden – was prompt geschah. Ergebnis: In einer der beiden wird gleich weiter saniert.

Die Sanierung der Dreikönigenschule ist derweil gescheitert. Messungen ergaben, dass die Maßnahmen nicht ausgereicht haben, die Werte in allen Räumen unter den Grenzwert der NRW-Richtlinie von 300 Nanogramm je Kubikmeter Luft zu drücken. Die ganze Schule ist bereits umgezogen – in ein Berufsbildungszentrum in Neuss. ANDREJ PRIBOSCHEK
(9.9.2012)

 

 

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