Die verkorkste Reform: G8 ist ungeliebt – und bröckelt

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BERLIN. Das überhastet eingeführte Turbo-Abi nach zwölf Jahren kommt bei vielen Eltern einfach nicht an. Immer mehr West-Bundesländer bieten deshalb Möglichkeiten, das Abitur auch wieder nach 13 Schuljahren abzulegen.

Das Bild gibt die Stimmungslage zur verkürzten Schulzeit treffend wider (auch wenn es tatsächlich zum G8-Gipfel in Rostock 2008 aufgenommen wurde). Foto: Christian Steiner / pixelio.de
Das Bild gibt die Stimmungslage zur verkürzten Schulzeit treffend wieder (auch wenn es tatsächlich zum G8-Gipfel in Rostock 2008 aufgenommen wurde). Foto: Christian Steiner / pixelio.de

Es sind nicht nur die vielen Meinungsumfragen, in denen Eltern dem ungeliebten Turbo-Abitur oder dem gymnasialen «G8-Modell» schlechte Noten ausstellen. Es ist bereits eine Abstimmung mit den Füßen – zumindest in den West-Bundesländern, in denen Eltern für ihre Kinder mittlerweile wieder zwischen dem Abitur nach 12 oder 13 Schuljahren wählen können. Der Trend im Westen, so sagen Schulforscher übereinstimmend, geht wieder zurück in Richtung klassisches Abitur nach längerer Schulzeit.

In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen laufen die an einigen Gymnasien zunächst testweise wieder eingeführten G9-Modellzüge über. Auf Anhieb hätte man gleich die doppelte Zahl genehmigen können. Noch vor Weihnachten beschloss der hessische Landtag Wahlfreiheit für Schulen und Eltern ab dem nächsten Schuljahr. In Schleswig-Holstein ist das Abitur an einzelnen Gymnasien schon längst wieder auch nach 13 Jahren möglich. Bayern plant ein «Flexibilisierungsjahr» – um angesichts der Elternrufe nach Rückkehr zur alten Schulzeit «ein wenig Dampf aus dem Kessel zu nehmen». Aufgeschreckt hatte das Ministerium in München Meldungen in mehreren Regionalzeitungen über zunehmenden Abi-Stress und hohen Durchfallquoten. Und an den Berliner Gymnasien mit Turbo-Abi gab es im vergangenem Jahr erstmals mehr freie Plätze als an den integrierten Schulformen – wo die Reifeprüfung unverändert erst nach 13 Schuljahren abgelegt wird.

In Niedersachsen gibt es unter Schwarz-Gelb keine Tendenz, irgendetwas zu ändern. Das könnte sich allerdings nach der Landtagswahl am 20. Januar ändern. Dann nämlich, wenn es zu einer
rot-grünen Landesregierung käme. Denn SPD und Grüne, aber auch Linke und Piraten wollen das Abi nach 13 Jahren zurückhaben. Wer die Reifeprüfung schon nach 12 Jahren ablegen will, soll aber die Möglichkeit dazu auf dem Gymnasium bekommen.Ende 2001 hatte die erste PISA-Studie die Öffentlichkeit mit der Botschaft alarmiert, dass 15-Jährige in Deutschland mit ihren Schulleistungen im weltweiten Vergleich allenfalls Mittelmaß sind. Der Schock war noch nicht verhallt, da verabredeten die Ministerpräsidenten in abendlicher Runde, die Schulzeit bis zum Abitur bundesweit auf 12 Jahre zu verkürzen – wie es in der DDR vor der deutschen Einheit auch schon üblich war.

Die überraschten West-Kultusminister mussten sich eilig daran setzen, die Weisung ihrer Regierungschefs umzusetzen. «Welch ein absurder Beschluss, auf festgestellte Leistungsschwächen in der Mittelstufe mit einer Schulzeitverkürzung bis zum Abitur zu reagieren», kritisierte damals der Bildungsforscher Klaus Klemm.

Sieben- bis Acht-Stunden-Tage

Doch statt die Unterrichtsinhalte zu überprüfen und das Volumen zu reduzieren, wurde vielerorts die von der Kultusministerkonferenz vorgegebene Pflichtzahl von 265 Lehrplanstunden bis zum Abitur einfach von neun auf acht Jahre übertragen. Besonders in der kritischen Mittelstufe, wenn Jugendliche mit der Pubertät zu kämpfen haben, kommt es nunmehr zu einer zusätzlichen Stofffülle, zu Nachmittagsunterricht sowie zu Sieben- bis Acht-Stunden-Tagen. Die meisten Gymnasien haben dafür aber viel zu wenig Klassenräume – geschweige denn eine Cafeteria oder gar Mensa.

Die Folgen: Stress und Unmut bei den Eltern, zusätzliche Kosten für Nachhilfe. Außerschulische Aktivitäten bleiben auf der Strecke. Vor allem Eltern aus dem Bildungsbürgertum klagen, dass ihre Kinder kaum noch Zeit für Tennis, Musikunterricht, Theaterspiel oder Sport haben. Der Schulforscher Klaus-Jürgen Tillmann: «Wir wissen aus unserer jüngsten Emnid-Umfrage, dass knapp 80 Prozent der Eltern im Westen und rund 50 Prozent im Osten eine Rückkehr zum Abitur nach 13 Schuljahren wünschen.»

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Die Schulzeitverkürzung führt dazu, dass heute bisweilen gerade erst 17-jährige Abiturienten an die Uni-Türen klopfen. Zur Einschreibung brauchen sie noch die Unterschrift der Eltern, wie auch für den Mietvertrag im Studentenwohnheim. In Baden-Württemberg und auch anderswo bieten einzelne Universitäten für die jungen Studienanfänger zusätzliche Kurse, Vorsemester oder einjährige Propädeutika an, um das fehlende Schuljahr wieder zu kompensieren.

Die Rufe der Wirtschaft nach immer jüngeren Abiturienten und Schulabgängern verfangen bei den meisten Eltern nicht. In Bayern zum Beispiel lassen immer mehr Familien nach Beobachtungen der GEW ihre Kinder bereits bei der Grundschuleinschulung mit Hilfe ärztlicher Atteste noch ein Jahr zurückstellen, «um ihnen noch ein wenig Schonraum zu bieten». In Nordrhein-Westfalen wie in Bayern mussten laut dem jüngsten Bund-Länder-Bildungsbericht vorbereitete Erlasse für eine noch frühere Einschulung wieder zurückgezogen werden. Befürchtet wurde noch mehr Widerstand der Eltern.

Bayerns Ex-Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) war nie ein Freund des Turbo-Abiturs. Spricht man ihn auf die Entwicklung heute an, dann lacht er. «Reife» – so urteilt er weise – «hat nicht nur beim Wein auch etwas mit dem Alter zu tun». KARL-HEINZ REITH, dpa

Zum Bericht: „Vergleichsstudie: G8 verbessert Leistungen bei Hamburger Schülern“

(3.1.2012)

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gergün
11 Jahre zuvor

Neben der Verkürung des Schulzeit um ein Jahr ist viel mehr geschehen,z.B. in Sachsen Anhalt und Mecklenburg Vorpommern wurdr gleichzeitig die Anzahl der Leistungskurse von ehemals 2 auf 6 Kurse , in BW, BB auf 5 erhöht, in Berlin, Hessen, Bremen werden bis heute nur 2 Leistungskurse Unterrichtet! Während in Berlin etwa 300 Std im Matheleistungskurs unterrichtet werden, sind es in Brandenburg nur 240 Std, also praktisch 16 Wochen weniger Unterricht! Deshalb haben über 2000 Schüler Unterschriften gegen ein gemeinsames Abitur mit Berlin prostestiert!Seit Übergang von G9 zu G8 fallen in St und MV urplötzlich nicht 2% der Schüler in der Kl.11 sitzen, sondern etwa 10%! Ist das Zufall bei 6 statt 2 Leistugskursen?
s.
Es ist mir heute nach monatlager Arbeit gelungen, für alle Bundesländer die unterschiedlichen Abiturdurchschnittsnoten zu berechnen, daraus einige Ergebnisse zum Vergleich:
ST MV BB TH By BER Brem
Kein Abi 2,0 2,2 2,4 2,4 1,9 1,5
Warum sind die Abiturnoten trotz gleicher Schülerleistung in allen Fächern so unterschiedlich? Jedes Bundesland hat für sich willkührliche, pädagogische unbegründbare, unvergleichbare Berechnungsverfahren für die Abiturnoten entwickelt! In dem einen Bundesland gehen Leistungskurse mit dem Faktor 1 im anderen Bundesland mit dem Faktor 2 ein! Auch bei den Abiturprüfungen ist es analog. Bei gleichen Prüfungsergebnissen rgebnissen trotz der neuen einheitlichen Standards bis zu 60 Punkten Unterschied in der Gesamtqualifikation für das Abitur
bei einheitlichem Numerus Clausus für die Studienbewerbung!
Für die Bildung der Abiturbschlussnote gibt es ein wichtiges weiteres Kriterium, natürlich ist die Abschlußnote z.B.in ST gegenüber Berlin oder gegenüber anderen Bundesländern wesentlich schlechter, weil sich die Noten aus allen 44 Kursleistungen zusammensetzen, in Berlin nur aus 32 Kursleistungen! Außerdem müssen in Sachsen Anhalt 36 Kurse mit >=5 Punkten bewertet sein, in Berlin nur 26, um zur Prüfung zugelassen zu werden!

sofawolf
11 Jahre zuvor

Ja, das ist sehr willkürlich und auch absurd (die unterschiedlichen Berechnungen der Zeugnis- bzw. Abschlussnoten).

gergün
11 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Zur Berechnung- wie viele Kurse werden zur Berchnung herangezogen:

Block1 ST SN BB TH BW By MV NS Holst SL RPf NRW Ham Hes BER Brem
44 44 42 40 40 40 36 36 36 36 35 35 32 32 32 32
Wenn ich , wie in Berlin z.B. von 44 Kursen 12 schlechte Kurse streichen kann,ist das Ergebnis mit Sicheit um 1 ganze Note besser!

gergün
11 Jahre zuvor

Wenn ich in einigen Ländern nur 26 Kurse >=5 Punkte zur Abiturzulassung benötige,in ST aber 36, dann indiesen Ländern viel weniger Schüler durch das Abi als in ST:
Kurse über >=05 Punkte Pflicht:
ST SN BB TH BW By MV NS Holst SL RPf NRW Ham Hes BER Brem
36 32 34 32 32 32 29 28 29 29 28 29 26 26 26 26
In dem einen Bundesland kann man Psychologie mit identischen Leistungen ohne Wartezeit studieren, in anderen Bundesländern wird der Schüler ein Hartz 4 Kandidat