Wahlfreiheit bringt verstärkten Zulauf auf Realschulen und Gymnasien

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STUTTGART. Nach der Abschaffung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung wechseln in Baden-Württemberg deutlich mehr Kinder ohne deutschen Pass auf das Gymnasium oder die Realschule. Die Einschätzungen der Parteien und Verbände fallen sehr unterschiedlich aus.

Wechselte im Schuljahr 2011/12 noch fast jeder zweite Abgänger aus der Grundschule ohne deutschen Pass auf eine Haupt- oder Werkrealschule, war es im laufenden Schuljahr noch gut jeder vierte. Dies geht aus einer Erhebung des Statistischen Landesamtes hervor, die heute veröffentlicht wurde. Die grün-rote Landesregierung hatte die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung abgeschafft und den Eltern das letzte Wort über die weiterführende Schule überlassen. Der neue Kultusminister Andreas Stoch (SPD) bezeichnete die Zahlen als erfreulich. Denn: «Grün-Rot hat es geschafft, die Bildungschancen der ausländischen Schüler deutlich zu erhöhen und damit den gesellschaftlichen Herausforderungen erheblich gerechter zu werden.» Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung habe sich deutlich schneller und noch positiver ausgewirkt als erwartet.

Andreas Stoch
Sieht die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung als Erfolg: Bildungsminister Andreas Stoch. Foto: SPD-Fraktion im Landtag Baden-Württemberg

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) teilte die Begeisterung des Ministers nicht. Der erhöhte Zulauf auf Realschulen und Gymnasien zeige zwar das Interesse der Eltern an höherwertigen Abschlüssen für ihre Kinder. «Diese Zertifikate müssen aber alle erst noch nach sechs oder acht Jahren erworben werden», hieß es. Ob die soziale Herkunft der Schüler damit wirklich schon an Bedeutung verloren habe, sei noch unklar. VBE und die Lehrergewerkschaft GEW forderten mehr Förderung.

Auch die CDU-Fraktion zeigte sich nicht überzeugt von den positiven Folgen des neuen Trends. «Die Quoten sagen doch gar nichts darüber aus, ob die Schüler tatsächlich das passende pädagogische Angebot für sich gefunden haben», sagte der Abgeordnete Georg Wacker. Ohne weitere Unterstützung für die immer heterogenere Schülerschaft in Realschulen und Gymnasien drohe ein Anstieg der Abbrecherquoten. Der Liberale Timm Kern sekundierte: Der Erfolg lasse sich frühestens mit dem Abschluss oder einem gelungenen Übergang ins Berufsleben feststellen. Die geplante Streichung von 11.600 Lehrerstellen bis 2020 stehe dem grün-roten Ziel entgegen, mehr für individuelle Förderung zu tun.

Von den ausländischen Schülern entschieden sich 28 Prozent für eine Werkreal- oder Hauptschule, knapp 38 Prozent für eine Realschule und 30 Prozent für ein Gymnasium. Damit ist die Übergangsquote aus- und inländischer Schüler bei Realschulen fast angeglichen. Beim Gymnasium liegen sie aber noch deutlich auseinander: Denn 45 Prozent der deutschen Viertklässler wählten das Gymnasium.

Der Trend weg von Haupt- und Werkrealschule verstärkte sich 2012/13 insgesamt. Es wechselten nur noch 15,8 Prozent der Grundschulabgänger auf diese Schulart. Einem Minus von acht Prozentpunkten bei den Haupt- und Werkrealschulen steht ein Schülerplus bei Realschule und Gymnasium gegenüber: Auf die Realschule entfällt ein Anteil von 37,1 Prozent aller Fünftklässler, das sind drei Punkte mehr als im Vorjahr; das Gymnasium war mit 43,9 (Vorjahr: 40,9 Prozent) die beliebteste Schulart.

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Auf eine der neuen Gemeinschaftsschulen wechselten 1,7 Prozent der Viertklässler. An der Gemeinschaftsschule hatten zwölf Prozent der Schüler eine Empfehlung für das Gymnasium, 28 Prozent für die Realschule. Das wertete Stoch als großen Erfolg, während Handwerkspräsident Joachim Möhrle zwölf Prozent «Gymnasiasten» für zu wenig befand. Die zeige, dass die erforderliche leistungsspezifische Förderung in der Gemeinschaftsschule noch skeptisch gesehen werde.

Auffällig ist, dass 17 Prozent der Grundschulabgänger mit Gymnasialempfehlung die Realschule wählten. Dieser Schulart sagte Stoch weitere Unterstützung zu: Für das kommende Schuljahr will er den Realschulen für die achten Klassen zwei Wochenstunden zur individuellen Förderung bereitstellen. Das sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, sagte die Vorsitzende des Realschullehrerverbandes, Irmtrud Dethleffs-Nies, aber noch lange nicht ausreichend. «Wir haben ja nicht nur Achtklässler.»

Auf das Gymnasium wechselten zu 89 Prozent Kinder mit der entsprechenden Empfehlung der Grundschullehrer. Zehn Prozent hatten die Lehrer zuvor den Besuch der Realschule geraten, nur ein Prozent der Kinder hatte eine Empfehlung für die Werkrealschule.

Für Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) zeigen die Zahlen, dass mehr Bildungsgerechtigkeit im Land einzieht. «Oft haben Migrantenkinder und sozial benachteiligte Kinder schlechtere Empfehlungen erhalten, weil man ihnen und den Eltern weniger zutraute.» (dpa)

(29.01.2013)

Statistisches Landesamt Baden-Württemberg – Bereich Bildung und Kultur

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klexel
11 Jahre zuvor

Die LuL in BaWü werden sich noch wundern. In Niedersachsen wurde der Elternwille schon vor mehr als 20 Jahren freigegeben. Das hatte früher – zu Zeiten der Orientierungsstufe – und auch jetzt zur Folge, dass kaum noch jemand zur Hauptschule geht, mehr als 60 % SuS mit Empfehlungen für die HS zur Realschule gehen, und ein Großteil der SuS mit Realschulempfehlung zum Gymnasium geht. In den RS fehlen die Spitzen, also die SuS, die früher als typische RS-Schüler galten und den Unterricht voranbringen und vielleicht auch Vorbildfunktion haben könnten. Dort kämpfen wir jetzt auch mit vielen SuS, die extreme Probleme mit der deutschen Sprache haben und auch in anderen Fächern schnell scheitern. Es hat sich alles nach oben Richtung Gym verschoben, nur die SuS sind nicht schlauer geworden. Das Gym klagt, die RS klagt, und die HS klagt über zu wenig Schüler, blutet aus – und dann wundert man sich, wie das denn passieren konnte. In Gym und in der RS ist das Niveau gewaltig gesunken, äh „angepasst“.
Nach 33 Jahren an der RS kann ich klar sagen: Das, was wir heute als Schüler haben, wären früher zum größten Teil HS-Schüler gewesen. Da aber keine Schule Schüler abgeben will und damit evtl. Lehrerstellen verlieren will, wird immer weiter hübsch nach unten „angepasst“.
Wir sind ein Schulzentrum mit allen Schulformen nebeneinander, von der Schülerschaft eher eine Multikulti-Brennpunktrealschule.
Ich bin in ein paar Jahren auf die Erfahrungen in BaWü gespannt.

sofawolf
11 Jahre zuvor

LuL und SuS ……… Kann das mal jemand erklären???

Aufmüpfer
11 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

LuL= Lehrer und Lehrerinnen
SuS= Schüler und Schülerinnen
Diese Abkürzungen werden seit dem hirnrissigen Gender mainstream benützt, der verlangt, dass die weibliche Form nicht zu kurz kommt. Ich schreibe nach traditioneller Art immer nur Lehrer und Schüler, wohl wissend, dass keiner so blöd ist, dass er nicht merkt, dass damit auch die Lehrerinnen und Schülerinnen gemeint sind.

mehrnachdenken
11 Jahre zuvor

Ich habe diesen Beitrag in einem Lehrerforum gefunden:
http://www.lehrerforum-nrw.de
In einem Kommentar ist einmal dargelegt worden, welche Ideologie hinter der Schulpolitik der SPD steckt. Nur so sind m.E. die tiefen Eingriffe in das doch bisher recht gut funktionierende Schulsystem in Baden-Württemberg zu erklären. Ich bin gespannt, was sich die Genossinnen/ Genossen in Niedersachsen noch so alles einfallen lassen. In Baden-Württemberg haben die Eltern es jetzt amtlich:
Sie sind die „besseren“ LehrerInnen. Schon immer ahnten sie ja zumindest, dass die Empfehlungen nur willkürliche Entscheidungen der LehrerInnen sind, die vor allem die ausländischen Kinder stark diskriminieren. Dass viele das Angebot „Wir schenken euch das Abitur“ aus der Ecke der „Erleichterungspädagogik“ mit Kusshand annehmen, kann ihnen doch niemand verübeln.

Der Kommentar aus dem o.g. Lehrerforum:
„Diese Diskussion ist deshalb nützlich, weil sie mögliche Ursachen unserer Bildungsmisere reflektiert. Sie liegen offensichtlich nicht im strukturellen Bereich sondern im ideologischen. Letzteres erschließt sich einem, wenn man bedenkt, dass seit nunmehr 45 Jahren der Hauspädagoge der demokratischen Sozialisten (u. a. SPD) ,W. Klafki, mit seiner kritisch-konstruktiven Didaktik die ideologischen Grundlagen der BRD-Bildungspolitiken bestimmt. Nach seiner Auffassung ist Bildung, als Bildung für alle, in erster Linie eine politische Bildung und keine „Fachbildung“. Politisch-ideologische Bildung, flankiert von Dogmen wie Leistungsfreiheit, Erziehungsverbot für Lehrer, Wohlfühlunterricht etc., führt halt zu katastrophalen Bildungsleistungen.
Interessant sind die Ausführungen des „Bremer Entwurfs“ der SPD zum Thema Bildung (Jan. 2007). Die SPD fordert eine Verstärkung der politischen Bildung und zwar im Kontext der „demokratischen Schule“. Hier setzt die SPD offenbar verstärkt auf die pädagogischen Heilslehren von I. Illich, W. Klafki, H. v. Hentig und vielen anderen linksdrehenden Pädagogik-Päpsten, incl. der Konstruktivisten a la K. Reich, und bereitet systematisch die Umsetzung der Idee der „Entschulung der Gesellschaft“ vor.“

Nathalie
11 Jahre zuvor

Danke, „mehrnachdenken“, für diesen interessanten und aufschlussreichen Beitrag.
ROT/GRÜN und die GEW bedeuten meiner Meinung nach das Ende jeder guten Bildung. Diese war bei Sozialisten nie besonders gefragt. Es zählte vor allem die Treue zum Staat mit seinen politischen, gesellschaftlichen und moralischen „Hilfen“ und Vorschriften. Eigenständiges Denken, Wissen und Handeln war da nie gefragt. Verdummte Bürger sind eben leichter zu lenken als andere, die das notwendige Wissen und Können für eigenständiges Denken und Handeln besitzen.
Mich betrübt immer wieder, dass die Lehrerschaft in besonderer Weise auf gutmenschliche (sozialistische)Töne hereinfällt, die die Menschen vom Staat abhängig machen und nicht zu Eigenleistungen und Eigenverantwortung aufrufen.