Das Phänomen Precht: Schuldebatte ohne Substanz

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BERLIN. Der Mann ist kein Pädagoge, kein Bildungsforscher, kein Schulpolitiker –  Professor zwar, aber eben niemand, der bislang in der Bildungsdebatte Spuren hinterlassen hätte. Dann schreibt er ein Buch darüber, wie er sich die Schulwelt wünscht. Und durch Deutschlands Medienlandschaft tobt ein Orkan, gegen den der jahrelange Streit um die Pisa-Studie in der Rückschau wie ein laues Lüftchen anmutet.

Mischt derzeit die Bildungsdiskussion auf: Philosoph Precht. Foto. Raimond Spekking / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Mischt derzeit die Bildungsdiskussion auf: Philosoph Precht. Foto. Raimond Spekking / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Vorletzte Woche eine Titelgeschichte in der „Zeit“, am vergangenen Sonntag ein Auftritt bei „Jauch“: Der Bestseller-Autor und medienpräsente Philosoph Richard David Precht findet mit seinem neuen Buch prächtigen Widerhall. Kaum erschienen, katapultierten die Käufer das umworbene Werk mit dem langen Titel «Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern» bereits an die Spitze der Bestsellerlisten. Precht plädiert für eine «Bildungsrevolution» an der Schule. Das Merkwürdige: Die Ideen sind keineswegs neu; ein Großteil wurde schon von Reformpädagogen vor 100 Jahren vertreten.

Prechts Diagnose zählt die bekannten Mängel auf: zu viel Pauken von Unterrichtsstoff, zu wenig Vermittlung von Zusammenhängen, zu wenig individuelles Lernen und zudem sozial zu selektiv. Sein Fazit: Rumdoktern an Symptomen bringt nichts. Eine radikale Reform muss her. Dazu gehören laut Precht Kindergartenpflicht vom dritten Lebensjahr an, eine integrative Gesamtschule für alle bis zur zehnten Klasse – als Ganztagsschule mit vielen Projekten und Notenverzicht.

„Gutes Lernen ist wie guter Sex“

Neu lesen sich allerdings zum Thema Bildung bei Precht Sätze wie dieser: «Gutes Lernen, so könnte man sagen, ist wie guter Sex: Nicht auf die Athletik kommt es an, auf Tempo und Frequenz, sondern auf die Eindringlichkeit, die individuelle Variation und den nachhaltigen positiven Effekt auf unsere Psyche.» Der Vergleich sei durchaus nicht weit her geholt, beteuert der Autor. Denn bei allen Erregungen unseres Gemüts handele es sich um das gleiche Belohnungszentrum. Wie naiv – oder weltfremd – muss man sein, um nach einem Missbrauchsskandal wie dem an der Odenwaldschule (wo auch von „pädagogischem Eros“ die Rede war) solche Analogien zu bemühen?

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Der Publizist («Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?») holt in seinem mit meist flotter Sprache geschriebenen neuen Buch weit aus. Er sei «ein Fan von Überblickswissen», sagte der 48-Jährige kürzlich in einem Interview. Und an diesem Wissen lässt er seine Leser unter Hinweis auf zahlreiche kluge Köpfe vom Römer Seneca über Alexander von Humboldt und Georg Picht bis zum modernen Hirnforscher Manfred Spitzer reichlich teilhaben. Tiefgang – oder gar praktische Erfahrung in Form von Lehrer-Statements – sucht der Leser allerdings vergebens.

Bereits bestehende gute Schulen mit Reformansätzen sieht der Honorarprofessor (Lüneburg und Berlin) als Vorboten einer Bildungsrevolution. Für eine deutschlandweite Veränderung brauche es aber politisches Handeln: so die Gründung eines Nationalen Bildungsrats, in dem Bund und Kommunen stimmrechtlich in der Mehrheit sind. Außerdem sollten die Parteien versuchen, mit der Forderung nach einer neuen Kompetenzverteilung in der Bildungspolitik Wahlen zu gewinnen. Und die Länder und ihre Kultusminister müssten auf Kompetenzen verzichten, so Precht (und weiß damit die Mehrheit der Deutschen hinter sich). Einen Wunsch freilich lässt er aus: Dass die Schulen endlich einmal, nachdem im Sog der Pisa-Erkenntnisse zehn Jahren an ihnen herumgedoktert wurde, Ruhe bekommen – Ruhe auch vor Fernseh-Philosophen, die noch nie vor einer Schulklasse von Pubertierenden gestanden haben. Aber natürlich wissen, wie guter Unterricht funktioniert. News4teachers / mit Material der dpa

(6.5.2013)

Zum Bericht: Precht fordert Schulrevolution – Rabe: „ein Sofakritiker“

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wetterfrosch
10 Jahre zuvor

Guter Artikel. Danke an die Redaktion von „News4teachers“!
Besonders die letzten Sätze möchte ich dick unterstreichen.

Tom Jork
10 Jahre zuvor

Leider kann man Precht aufgrund seiner Popularität nicht einfach ignorieren. Man ärgert sich als in der Bildung Tätiger einfach nur über die Oberflächlichkeit und das substanzlose ‚Philosophieren‘, das einem echten Philosphen nur den Kopf schütteln lässt. Precht macht übrigens das, was jeder meint machen zu können: Sofern man selbst eine Schule besucht hat und womöglich auch noch Kinder kennt, die eine besuch(t)en, dann fühlt man sich berufen mitzureden. Precht ist das Sprachrohr dieser Stammtisch-Weltverbesserer…


Tom Jork
http://www.lehrerstuhl.de

nicoleyoga
10 Jahre zuvor

Die großen Denker unserer Geschichte wurden meistens zu ihrer Zeit als Querrualanten abgestempelt. Mir gefällt es gut, dass da jemand ist (hier: Precht), der endlich mal lautstark und hörbar gegen unser Bildungssystem revolutioniert. Mir (Grundschulleherin und Mutter von 3 Kindern)gefällt das System schon lange nicht mehr: Leistungsdruck, Transparenz, lernunwillige Kinder, schwierige Kinder und nun auch noch die Inklusion, die uns auch noch übergestülpt wird. Ich wünsche mir, dass Precht seine Popularität nutzt, um etwas zu bewegen. Denn wir Lehrer sitzen doch am kürzesten Hebel – wir sind doch nur das ausführende Organ!!! Man muss ja auch nicht alle Ideen Prechts gut finden, aber es stecken doch viele gute, umsetzbare Ideen in seinen Äußerungen! Meine Untersützung hat er!!!

klexel
10 Jahre zuvor

Zitat nicole: “ Mir gefällt es gut, dass da jemand ist (hier: Precht), der endlich mal lautstark und hörbar gegen unser Bildungssystem revolutioniert.“ Richtig, neue Ideen braucht die Schullandschaft. Dafür braucht es kluge Köpfe, die wissen, wovon sie reden und nicht den oberflächlichen Dummschwätzer Precht, der uralte Ideen als neu verkauft und von Schulalltag keine Ahnung hat, außer dass er ein paar Kinder durch die Schule gebracht hat.

Stefan B..
10 Jahre zuvor
Antwortet  klexel

@klexel
Bin hundertprozentig Ihrer Meinung!
Precht ist doch kein Querulant, sondern ein populistischer Rattenfänger, der es versteht, mit einem Sammelsurium an aufgelesenen Ideen immer wieder im Scheinwerferlicht zu stehen und dies in klingende Münze umzusetzen.

wetterfrosch
10 Jahre zuvor
Antwortet  klexel

@klexel
Wobei noch zu fragen wäre, ob ER die Kinder durch die Schule gebracht hat oder diese sich allein. Anscheinend hat er doch keinen blassen Schimmer vom Schulalltag.
Der Artikel in der FAZ ist wirklich gut. Danke für den Link!

nicoleyoga
10 Jahre zuvor

Mir stellt sich da die Frage: „Wer sind denn da die klugen Köpfe???“ Ich glaube, dass kaum einer der politischen Entscheidungsträger selbst aktiv im Schuldienst war und schon mal gar nicht ist. Damit wäre Precht sicherlich keine Ausnahme. Und ich glaube schon, dass man als Vater von vier Kindern ein kleines bisschen etwas vom Schulsystem mitbekommt. Na ja, wie dem auch sei: Populistische Sprüche bringen kaum weiter, das stimmt – aber unsachliche Allgemeinkritik auch nicht. Vielleicht sollte man einfach schauen, welche Ideen brauchbar sind und ihn dann als Medienmenschen einfach als Medium nutzen für eine neue Entwicklung! Oder sind hier alle zufrieden mit unserem Bildungssystem? Was würdet ihr denn wie verändern???