Übertrittszeugnisse – Schicksalstag zwischen Freude und Drama

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MÜNCHEN. Mathe, Deutsch, HSU – auf diese Noten kommt es am morgigen Donnerstag bei den bayerischen Viertklässlern an: Dann gibt es Übertrittszeugnisse. Ein Schicksalstag zwischen Freude und Drama, haben doch viele monatelang unter Hochdruck auf einen guten Notendurchschnitt hingearbeitet.

Für so manche Viertklässler in Bayern ist das Übertrittszeugnis ein Anlass zur Furcht. Foto: BARMER GEK
Für so manche Viertklässler in Bayern ist das Übertrittszeugnis ein Anlass zur Furcht. Foto: BARMER GEK

Viele Viertklässler in Bayern stehen zurzeit unter besonderem Druck: An diesem Donnerstag gibt es Übertrittszeugnisse für etwa 106.000 Schüler. Die Noten in Deutsch, Mathe und Heimat- und Sachunterricht (HSU) entscheiden mit darüber, ob ein Kind nach der Grundschule auf das Gymnasium, die Realschule oder die Mittelschule kommt. «Dieser Termin wird als Schicksalstermin wahrgenommen», sagt der Präsident des Lehrerverbandes BLLV, Klaus Wenzel. Für die Kinder hieß das in den vergangenen Monaten: lernen, lernen, lernen – trotz Krankheit, in den Ferien und am Wochenende, notfalls mit Nachhilfe. Viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind an der vermeintlich falschen Schule sowohl privat, als auch beruflich schlechte Zukunftsaussichten haben wird.

Für die Lehrerin einer Ganztagsklasse sind da unhaltbare Zustände, wie sie auf der Internetseite des BLLV beschreibt. «So manches Familiendrama ist dem Übertritt geschuldet», sagt die Pädagogin, die anonym bleiben will. Sie sehe täglich, wie sich der Druck auswirke: Kinder mit Kopf- und Bauchschmerzen, Eltern, die ihre Sprösslinge krank in die Schule schicken – aus Angst, sie könnten etwas Wichtiges verpassen. Und nachts schlechte Kinderträume. Besonders unverständlich sind für sie Eltern, die dem Kind die Verantwortung aufbürden, ob alle einen schönen Urlaub verbringen werden. «Wenn ich den Übertritt ans Gymnasium schaffe, dann fliegt unsere ganze Familie nach Florida. Wenn nicht, machen wir Urlaub in Deutschland oder gar keinen Urlaub», sei ein typischer Satz.

BLLV: Gemeinsame Schulzeit ausweiten

Schulpsychologin Helga Ulbricht kann über solche Auswüchse nur den Kopf schütteln. «Die vierte Klasse ist nicht das Ende der Schullaufbahn», sagt die Leiterin der staatlichen Schulberatung in München. Sie rät den Eltern, sich möglichst früh über die Schularten zu informieren. Das propagiert auch das bayerische Kultusministerium. Keine weiterführende Schulart versperre den Weg zu dem gewünschten Schulabschluss. Will heißen: Wer will, kann auch von der Mittelschule an die Realschule wechseln und das Fachabitur oder die allgemeine Hochschule erwerben. Voraussetzung allerdings: gute Noten.

Der BLLV hält den bayerischen Weg trotzdem für verkehrt. Präsident Wenzel fände es besser, die gemeinsame Schulzeit auf mindestens acht, am besten auf zehn Jahre auszuweiten. «Man verteilt nicht vor der Pubertät, sondern am Ende. Dann ist ganz viel Druck draußen.» Wenzel bedauert vor allem, dass die persönliche Entwicklung viel zu wenig gewürdigt wird. «Das spielt alles keine Rolle: Ob ein Kind hilfsbereit ist, ob es sich in Konflikten bewährt, wie es mit Krisen umgeht», bemängelte er. «Das Kind wird reduziert auf drei Noten und dann behauptet man, das hat was mit Bildung zu tun.»

Den Druck bekommen auch die Lehrer zu spüren. Wenzel berichtet von Eltern, die bei schlechten Noten mit dem Anwalt in die Schule kommen. Von Telefon-Terror. Und von Müttern und Vätern, die vermeintlich überflüssige Schulangebote wie Musikunterricht, Konflikttraining oder Theater am liebsten streichen würden nach dem Motto: «Sie sollen gefälligst Mathe, Deutsch, und HSU machen.»

Anders sieht es der Philologenverband bpv, der Lehrer an Gymnasien und beruflichen Oberschulen vertritt. Sie werten die Übertrittszeugnisse als wichtige Hilfe, um die richtige Schule zu finden – zumal diese Entscheidung nicht endgültig sei. Davon, den Eltern die Schulwahl wie in Baden-Württemberg freizustellen, hält der bpv-Vorsitzende Max Schmidt nichts: «Je freier die Elternwahl, desto größer die soziale Ungleichheit.» In Baden-Württemberg würden Kinder deshalb zu Bildungsverlierern. Das zeige die hohe Zahl der Schüler, die in der 5. Klasse des Gymnasiums das Klassenziel nicht erreichten. «Kinder in diesem Alter die Erfahrung machen zu lassen, eine Schulart zu besuchen, die sie überfordert und die sie womöglich wieder verlassen müssen, ist für die Kinder frustrierend und politisch verantwortungslos.»

Die jetzigen Viertklässler müssen mit dem Stress kurz vor dem Übertritt klarkommen – vor allem wenn sie in einer Großstadt wohnen, wo der Druck sehr viel höher ist, als auf dem Land. Da erzählen Kinder in der Beratung der Schulpsychologin Ulbricht schon mal von verletzenden Äußerungen der Mitschüler: «Gehst Du aufs Gymi, auf die Real oder auf die Doofenschule?» – Ein Stigma, das die frühere Hauptschule nach Meinung vieler nicht verloren hat. CORDULA DIECKMANN, dpa

(1.5.2013)

Zum Bericht: „Bayern: Viele Schüler meiden das Gymnasium – trotz Empfehlung“

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