Erwachsenen-PISA offenbart: Bildung hat keinen Stellenwert in Deutschland

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Ein Kommentar von NINA BRAUN.

Die Nachricht, dass es bei der Bildung in Deutschland auch unter den Erwachsenen nicht besonders gut aussieht, gibt Gelegenheit, mit zwei Mythen endgültig aufzuräumen: Erstens, Deutschland ist nicht das Land der Dichter und Denker, allenfalls ein Land, in dem es einzelne Dichter und Denker gibt – wie andernorts auch. Anders ausgedrückt: Bildung hat in Deutschland keinen besonderen Stellenwert. Zweitens, die häufig zu hörende These, die Schule und die Schüler früher seien besser gewesen, ist falsch. Die Schüler von früher sind ja die Erwachsenen von heute. Deren Bildungslücken, die die aktuelle Studie offenbart, wurden also auch schon vor Jahrzehnten in den Schulen nicht geschlossen.

Auch die heute – zu Recht – so oft beklagte krasse Ungleichverteilung der Bildungschancen ist ein seit Dekaden existierendes Problem in Deutschland, nur wollten die Deutschen vor der ersten PISA-Studie (die 2001 erschien) davon wenig wissen. Tatsächlich kam der Befund damals überraschend; die aktuelle Studie ist als weitere Bestätigung zu sehen.

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Offensichtlich ist Deutschland seit langem ein geteiltes Land, und zwar ein kulturell geteiltes. Auf der einen Seite gibt es ein starkes Bildungsbürgertum, auf der anderen Seite eine Art Bildungsproletariat, bildungsferne Familien also, bei denen die Geissens und Dieter Bohlen als Vorbilder und Bücher als Relikte aus einer fernen Vergangenheit gelten. Diese Menschen sind weitgehend isoliert vom gesellschaftlichen Leben; die geringe Beteiligung von bildungsfernen Schichten etwa an der Bundestagswahl spricht Bände. Solche Familien – vor allem: die Kinder – zu integrieren, ist eine der wichtigsten Aufgaben deutscher Innenpolitik. Den Politikern aber fällt meist nichts Besseres ein, als das Problem direkt weiterzureichen: an die Schulen, und zwar ohne den Lehrern die zur Problembehandlung notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Ob Integration von Einwanderern, sozialer Ausgleich, fehlendes Ernährungsbewusstsein oder Inkompetenz im Umgang mit Medien – jedes gesellschaftliche Problem soll die Schule lösen. Bildung, eigentlich viel mehr als die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten, wird hier zu Lande allein als Schulaufgabe verstanden, nicht als gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Auch hieran zeigt sich: Bildung hat in Deutschland keinen besonderen Stellenwert.

Zum Bericht: „Auch beim PISA für Erwachsene ist Deutschland nur Mittelmaß“

Die Bildungsjournalistin Nina Braun. Foto: Bildungsjournalisten.de
Die Bildungsjournalistin Nina Braun. Foto: Bildungsjournalisten.de

 

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Beate S.
10 Jahre zuvor

Sie schreiben: „Zweitens, die häufig zu hörende These, die Schule und die Schüler früher seien besser gewesen, ist falsch. Die Schüler von früher sind ja die Erwachsenen von heute.“
Dieser Gedanken kam mir auch sofort, als ich gestern die überraschenden Testergebnisse der Erwachsenen hörte. Dann meldeten sich aber Zweifel.
Ich bin Grundschullehrerin, seit 2011 im Ruhestand. Ca. 40 Jahre lang habe ich Kinder unterrichtet und kann nur sagen, dass die Schüler zu Beginn meiner Berufstätigkeit besser waren als gegen Ende und zwar sowohl in ihrem Arbeitsverhalten als auch in ihren Leistungen.
Ich habe 4 Enkelkinder, von denen 3 in die Grundschule gehen und dort zu den Klassenbesten gehören. Aus Interesse habe ich sie vor einiger Zeit Diktate und Mathematikarbeiten meiner jeweiligen Klassen von vor gut 25 Jahren schreiben lassen. Das Ergebnis war erschütternd. Der Bewertungsmaßstab von damals hätte alle 3 Enkel als Schüler der unteren Klassenhälfte ausgewiesen.
Außerdem ist es Tatsache, dass viele Bewerber/innen auf eine Lehrstelle eine Absage erhalten, obwohl die Firmen händeringend Nachwuchs brauchen. Doch die Defizite im Lesen, Schreiben und Rechnen sind oft so gravierend, dass es unmöglich ist, diese jungen Menschen ohne aufwendige Nachschulung einzustellen. Jedenfalls höre und lese ich das immer wieder.
Und die Hochschulen sind zunehmend gezwungen, Studienanfängern Förderkurse anzubieten, damit sie überhaupt studierfähig sind. Auch hiervon höre ich immer wieder.
Bedeuten all diese Fakten nichts mehr, weil ein Pisa-Test für Erwachsene sie im Handstreich vom Tisch zu wischen scheint? Es fällt mir schwer, diesen einfachen Schluss aufrecht zu erhalten.

mehrnachdenken
10 Jahre zuvor

@Beate S.
Sie schreiben mir aus der Seele!! Ein wichtiger Beitrag, der doch einiges gerade rückt. Mich wundert sowieso, dass die PISA – Ergebnisse so kritiklos kommentiert werden und nicht endlich einmal mit der notwendigen Distanz betrachtet und ggf. auch infrage gestellt werden.
Nein, reflexartig werden dann z.B. von der GEW die schulpolitischen Konsequenzen gefordert: Alle in eine Schule, und dann wird alles besser. Mir scheint, als ob diese Gewerkschaft das Ergebnis schon kannte, so schnell wurde deren Stellungnahme veröffentlicht. Evtl. lag die schon lange in der Schublade.

mehrnachdenken
10 Jahre zuvor

Die Bildungsdiskussion wird in Deutschland fast einseitig aus einer ganz bestimmten politischen Richtung bestimmt. Aktuelles Beispiel ist die Stellungnahme der GEW zur neuesten PISA-Studie. Eine wichtige Rolle nimmt dabei die Bertelsmann-Stiftung ein. Hier ein Dossier über ihre Aktivitäten:

http://www.lehrerverband.de/aktuell_Dossier_Bertelsmannstudien_Dez_12.html

Couponschneider
9 Jahre zuvor

Meine Erfahrung ist, dass viele meiner Gleichaltrigen (um die 30) Bildung geradezu verachten. Ich bin einer der wenigen in meiner Abteilung (ca. 20 Leute) und in meinem Alter, der noch Bücher liest und der regelmäßig ins Theater geht. Unter den männlichen Kollegen bin ich sogar der einzige. Und auch in meiner ehemaligen Firma ist mir die Bücherfeindlichkeit aufgefallen.

Das ist das, was ich beobachte. Und was mich besonders erschreckt: Es sind Akademiker, die von sich aus sagen: Bücher, was soll ich damit?

Ignaz Wrobel
6 Jahre zuvor

Frau Braun
Auch die vergleichende LEO-Studie beweist das Gegenteil. Wenn man das Ergebnis betrachtet gibt es zwischen den einzelnen Jahrgängen keine Abweichungen mit einem Anteil um 15 % funktioneller Analphabeten. Bezieht man aber die Tatsachen mit ein, dass die Generation der 18 bis 29 Jährigen direkt im Anschluss an die Schulzeit oder sich am Ende eines Studium befanden, während die 60 bis 69 dem Risiko invalidisierender Erkrankungen und fehlender Lesetätigkeit ausgesetzt waren, so sind die fehlenden Differenzen zwischen den einzelnen Jahrgängen Besorgnis erregend.
Wie werden wohl erst die heute 18 bis 29 Jährigen abschneiden, wenn das Risiko der gesundheitlichen Invalidisierung von Demenz, Apoplex, Diabetes mellitus, neurologischen und anderen Erkrankungen hinzu kommen. Dann wird die Zahl der Analphabeten höher als die der heutigen älteren Generation liegen.