Vor 30 Jahren: Wie ein Lehrer den Protest gegen Pershing-Raketen vorantrieb

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KARLSRUHE. Der Karlsruher Sonderschullehrer Ulli Thiel organisierte eine 108 Kilometer lange Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm, die heute vor 30 Jahren stattfand. Die Aktion ging in die Geschichte der Friedensbewegung ein.

Anfang der 80-er Jahre war die Stimmung wegen der geplanten Stationierung von Pershing-II-Atomraketen aufgeheizt - hier Demonstranten vor der Rhein-Main-Air-Base 1982. Foto: MSGT Don Sutherland / Wikimedia Commons
Anfang der 80-er Jahre war die Stimmung wegen der geplanten Stationierung von Pershing-II-Atomraketen aufgeheizt – hier Demonstranten vor der Rhein-Main-Air-Base 1982. Foto: MSGT Don Sutherland / Wikimedia Commons

Eigentlich wollte Ulli Thiel ja nur einen Streit schlichten. Denn bei der Ulmer Aktionskonferenz der Friedensbewegung im Juni 1983 war die Stimmung aufgeheizt: Diskussionen über geplante Demonstrationen gegen die Stationierung von Pershing-Raketen wollten nicht enden. Die einen plädierten für eine Großkundgebung in Stuttgart, die anderen forderten lautstark eine Blockade der Militärstützpunkte in Neu-Ulm. «Machen wir doch einfach eine Menschenkette. Von Stuttgart bis nach Ulm», schlug Thiel vor. «Einige hielten mich da wohl ernsthaft für verrückt», sagt der heute 69-jährige Friedensaktivist aus Karlsruhe.

Doch am Ende der zweitägigen Konferenz stand der Beschluss. Was dann passierte, ging in die Geschichtsbücher ein: Am 22. Oktober 1983 versammelten sich rund 400 000 Menschen entlang der Bundesstraße 10 und bildeten zwischen der europäischen Kommandozentrale in Stuttgart-Vaihingen und den atomar bestückten Wiley Barracks in Neu-Ulm eine Menschenkette. Noch heute ist es die längste Menschenkette, die es je in Deutschland gab.

Bis es soweit sein sollte, hatte Thiel jede Menge Probleme zu lösen. Für den größten Wirbel sorgte ein Streit mit dem damaligen baden-württembergischen Kultusminister und Präsidenten des VfB Stuttgart, Gerhard Mayer-Vorfelder (CDU). Er wollte die Friedensaktion verlegen lassen wegen eines Bundesligaspiels zwischen dem VfB und dem FC Bayern München. Die Sicherheit zweier Großveranstaltungen sei nicht zu gewährleisten, führte er an. Außerdem sei das Spiel mit rund 60.000 Zuschauern wichtiger. «Da konnten wir locker gegenhalten und gaben einfach 100.000 Teilnehmer bei der Menschenkette an», sagte Thiel.

Die Menschenkette fand statt wie geplant – eine logistische Meisterleistung. Sonderzüge und Busse wurden gebucht und die angemeldeten Gruppen nach Postleitzahlen auf die Streckenabschnitte verteilt. Lücken in der Kette gab es trotz vieler Befürchtungen nicht. Jeder hielt jeden an der Hand: «Auf den Luftbildern war klar zu erkennen, dass die Menschenkette wegen der vielen Teilnehmer regelrecht durch die Landschaft mäanderte», erinnert sich Thiel. Es hätte auch gut und gerne eine Kette mit doppelter Länge gebildet werden können.

«Alle waren begeistert und ein bisschen überrascht, wie friedlich und kreativ sich so viele Menschen auf einmal für eine gute Sache einsetzten können», sagt Thiel. Viele anfangs skeptische Anwohner hätten sich von der Fröhlichkeit anstecken lassen und spontan in die Kette eingereiht. Die Angst vor langhaarigen Bombenlegern und zottelbärtigen Krawallköpfen war erstmal passé.

Obwohl seinerzeit unter anderem von den frisch gegründeten Grünen unterstützt, war für Thiel schnell klar: Von der Politik wollten sie sich nicht zu sehr vereinnahmen lassen. «Das haben wir den Grünen auch unmissverständlich klar gemacht.»

Der von Thiels Frau Sonnhild geprägte Spruch «Was gilt die Wette, wir schaffen die Kette» wurde jedenfalls Wirklichkeit. Der von Ulli Thiel schon fünf Jahre zuvor für die Aktion Sühnezeichen erfundene Slogan «Frieden schaffen ohne Waffen» hingegen ging nicht in Erfüllung: Im November 1983 wurden wie geplant weitere Atomwaffen in Deutschland stationiert.

Auch 30 Jahre nach der Menschenkette organisiert Thiel noch regelmäßig Mahnwachen oder Kundgebungen für den Frieden. Dass er damit keine 400 000 Leute mehr erreicht, ist dem mittlerweile pensionierten Sonderschullehrer bewusst. Seinem Engagement tut das keinen Abbruch: «Trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse geht die Abrüstung immer noch viel zu schleppend voran.» HARTMUT MAYER, dpa

Zum Bericht: „Die GEW drängt die Bundeswehr aus den Schulen“

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