Der Trend zum Studium: „Akademisierungswahn“ oder Wandel des Arbeitsmarkts?

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BERLIN/NÜRNBERG. Immer mehr Absolventen entscheiden sich nach der Schule für ein Studium statt für eine Lehre. Mit seinem Plädyoer gegen den „Akademisierungswahn“ hat der Philosoph Julian Nidda–Rümelin eine kontroverse Debatte angestoßen.

Es ist schon eine kleine Sensation: Erstmals werden in diesem Jahr in Deutschland mehr junge Menschen neu in ein Studium starten als eine Ausbildung im Betrieb aufnehmen. Rund 482 400 neue Lehrverträge zählen Industrie, Handel, Handwerk und freie Berufe zum gesetzlichen Bilanzstichtag 30. September. Das sind 20 500 oder 4,1 Prozent weniger als im Vorjahr. Universitäten und Fachhochschulen rechnen dagegen in diesen Tagen fest mit der Neueinschreibung von etwa 500 000 Erstsemestern.

Blick in einen Hörsaal
Immer mehr junge Menschen entscheiden sich für ein Studium. Foto: this.is.seba / flickr (CC BY-SA 2.0)

Der Trend zum Studium zeichnet sich seit Jahren ab. Er folgt einem Wandel auch in der deutschen Beschäftigungsstruktur. Laut allen Arbeitsprognosen werden wissensbasierte Tätigkeiten noch mehr zunehmen, produktionsnahe dagegen zurückgehen. Auch konservative Bildungspolitiker, die früher nicht müde wurden, vor einer drohenden «Akademikerschwemme» zu warnen, räumen inzwischen ein, dass mit den früheren dürftigen deutschen Hochschulabsolventen-Quoten der heutige Erfolg der deutschen Wirtschaft kaum möglich gewesen wäre.

Der OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher, der seit Jahren für eine höhere Akademiker-Quote wirbt, prognostiziert einen noch stärkeren Wandel auf dem Arbeitsmarkt: Auf der Wachstumsseite stünden noch mehr anspruchsvolle Tätigkeiten, die Problemlösungskompetenz und Abstraktionsvermögen erforderten – während sich einfache Technik-Arbeiten weiter automatisieren ließen.

Dabei hätten Jobs wie Friseur oder Taxifahrer noch Bestand, weil sie nicht in Billiglohnländer ausgelagert werden könnten. Die größte Gefahr sieht Schleicher hingegen für einfache Büroberufe und Dienstleistungen, die sich noch stärker als heute digitalisieren ließen. In der Verwaltung drohe eine zweite technische Revolution.

Gleichwohl haben der anhaltende Run auf die Hochschulen und die sinkenden Anfängerzahlen in der beruflichen Bildung eine neue Debatte über einen «Akademisierungswahn» ausgelöst. Der SPD-Philosoph Julian Nida-Rümelin sieht durch die steigenden Studentenzahlen gar «die größte Stärke der deutschen Bildungstradition» in Gefahr – nämlich die Verbindung von staatlicher Bildung in der Berufsschule und beruflicher Ausbildung im Betrieb, schrieb Nida-Rümelin in der «FAS».

Der frühere SPD-Bildungsminister Klaus von Dohnanyi legte dieser Tage in der «Süddeutschen Zeitung» nach. Er warnte davor, in der Aufnahme eines handwerklichen Berufs einen «Bildungsabstieg» zu sehen. Schließlich sei seine Tochter auch erfolgreiche Goldschmiedin in Florenz, meinte der 85-Jährige.

Wer die Debatte Studium versus Lehre schon etwas länger verfolgt, fühlt sich an die ideologiebehafteten Bildungskämpfe der 80er und 90er Jahre erinnert. Doch die damals vor allem von Bildungspolitikern der Union gern benutzte Schreckensvision einer «Akademikerschwemme» und des «Taxifahrenden Dr. Arbeitslos» blieb eine Stammtisch-Fiktion.

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Bei ihrer Entscheidung für Studium oder Lehre haben die jungen Menschen wie deren Eltern heute meist praktische Erwägungen im Blick. So ist die Arbeitslosenquote von Hochschulabsolventen in Deutschland mit 2,4 Prozent erheblich niedriger als die von betrieblich ausgebildeten Fachkräften (5,8 Prozent). Und: Akademiker verdienten 2011 hierzulande fast zwei Drittel mehr als Absolventen einer Lehre.

Ob das Studium allerdings auch in Zukunft ein Schutz gegen Arbeitslosigkeit bilden kann, ist fraglich. So verweist etwa der Bildungsexperte Felix Rauner von der Universität Bremen auf das Beispiel Dänemark. 41 Prozent der dänischen Absolventen, die mit dem Bachelorabschluss die Universität verlassen, seien anschließend mehr als ein Jahr arbeitslos.

Die akademische Ausbildung gehe außerdem oft an den Anforderungen der Arbeitswelt vorbei. Gerade das disziplinübergreifende, vernetzte Denken werde im Wissenschaftsbetrieb nicht gelehrt, so Rauner im Stern

Der Chef des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Joachim Möller, warnt denn auch davor, Studium und Lehre gegeneinander auszuspielen. Statt «Scheinprobleme wie einen angeblichen Akademisierungswahn» zu erörtern, müssten Bildungspotenziale besser ausgeschöpft und möglichst viele der völlig ungelernten 1,5 Millionen Erwachsenen zwischen 20 und 30 Jahren nachträglich in eine Ausbildung vermittelt werden, sagte Möller der Zeitschrift «Forschung & Lehre».

Folgt man den Ausbildungsplatz-Bilanzen der Bundesagentur für Arbeit (BA), dann ist das Lehrstellenangebot der Wirtschaft seit Jahren rückläufig – wie auch die Zahl der sich an der Ausbildung beteiligenden Unternehmen. Von den insgesamt 2,1 Millionen Firmen stellten im vergangenen Jahr nur 21,7 Prozent neue Lehrlinge ein.

Dabei mangelt es allen Klagen aus der Wirtschaft zum Trotz nicht an Bewerbern – wenn auch zwischen den Berufswünschen und Erwartungen der jungen Menschen und den Qualifikationsanforderungen der Betriebe bisweilen Welten klaffen. Jeder vierte neue Lehrling hat heute Abitur, zugleich ist fast jeder zweite Ausbildungsberuf Haupt- und Realschülern faktisch verschlossen. Wegen der vielen nötigen Nachqualifizierungen und ergebnislosen Bewerbungen sind Hauptschulabsolventen beim Ersteintritt in eine Lehre inzwischen im Schnitt 19,2 Jahre alt. (News4teachers mit Material der dpa)

zum Bericht: Erstmals weniger neue Lehrverträge als Studienanfänger – „Deutschland ist kein Ausbildungsparadies“

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Julian Nida-Rümelin
10 Jahre zuvor

Das ist ein ungewöhnlich ausgewogener Artikel zu einem hochgradig ideologisiierten Streit.

Zwei Aspekte sollte man noch beachten, um zu einem wohlbegründeten Urteil zu kommen:

Erstens: Ich habe nicht behauptet, dass wir in Deutschland schon heute zu viele Akademiker haben und ich weiß wohl, dass es einige Fächer gibt, in denen wir einen steigenden Bedarf haben (nicht einfach MINT, sondern spezifischer: Ingeneure, Informatiker, nicht so sehr Biologen, Geographen z B). Mir geht es um einen Trend: 70 und mehr Prozent in den Städten mit Hochschulzugangsberechtigung, Ermahnungen von Seiten der Bildungspolitik, diesen auch für ein Studium zu nutzen, lassen den Prozentsatz pro Jahrgang, der für das Duale System zur Verfügung steht, dramatisch absinken. Wenn dieser Trend anhält, ist das Duale System in einigen Jahren zerstört. Das Bundesinstitut für Berufliche Bildung hat erreichnet, dass bis 2030 über eine Million mehr Akademiker auf den Arbeitsmarkt kommen werden, als ausscheiden, dass aber im Bereich der nicht-akademischen Fachkräfte eine Lücke von über 4 Millionen klaffen wird. Die Hoffnung, diese könne durch BA-Absolventen gefüllt werden, halte ich für trügerisch. In jedem Fall wäre das mit einem dramatischen Qualfizierungsverlust, bei – formal – höherem Abschluss verbunden.

Zweitens beruht das Argument, dass doch Hochschulabsolventen eine niedrigere Arbeitslosenquote aufweisen,und solange das so sei, sollte dieser Bereich weiter wachsen, auf einem Trugschluss: Denn die Verdrängungseffekte bleiben außer Betracht: Wenn Absolventen eines ArchitekturStudiums heute das tun, was früher technische Zeichner taten und de facto Abitur erforderlich ist, um bestimmte berufliche Ausbdilungswege einzuschlagen, dann wird die Arbeitsmarkt-Problematik lediglich verschoben.

Auch das Argument der höheren Bezahlung relativiert sich deutlich, wenn man nicht Monatsgehälter, sondern Lebenseinkommen vergleicht. Tatsächlich konvergieren, nicht divergieren, die Lebenseinkommen von akademischen und nicht-akademischen Fachkräften seit geraumer Zeit.

Mir geht es aber auch um eine kulturelle Frage: welchen impliziten Werten folgt unsere Bildungspolitik, warum werden von jeher technische, im weitesten Sinne haptische und ästhetische, auch soziale Fähigkeiten und Interessen gegenüber kogntiven abgewertet, was sind die impliziten Kriterien des Schulerfolgs, warum spielen für diesen, soziale, musische, technische, handwerkliche, ästhetische und ethische eine so untergeordnete Rolle?

Anna
10 Jahre zuvor

Das ist eben eine Frage von Nachfrage und Angebot. Die Betriebe wollen nur noch Abiturienten, aber keine besseren Bedingungen schaffen. Das ist jammern auf hohem Niveau. Sie sind es doch, die die Real- und Hauptschüler zurück in die Schule jagen, wodurch die „Bildungsinflation“ erst entsteht. Abgesehen davon, dass ich nicht verstehe, warum man für körperlich harte, geistig weniger anspruchsvolle Arbeit Goethe und Analysis brauchen soll: Abitur ist Hochschulreife! Man kann es den Gymnasiasten nicht verdenken, dass sie die deutlich besseren Einstellungs- und Arbeitsbedingungen und den höheren
Lohn mitnehmen wollen, die ein Akademischer Beruf meist mit sich bringt. Und viele, die doch auf die Idee kommen, eine Lehre machen zu wollen, weil es ja „was solides“ ist, merken dann, dass sie ohnehin nicht übernommen werden und die Perspektiven schlecht sind… Und gehen danach doch an die Uni. Da hilft es nichts, auf die SchülerInnen zu schimpfen, man sollte froh sein, dass sie die Zeichen des Strukturwandels erkennen und vielleicht mal selber überlegen, was man gegen die Ursachen tun kann. Der 70er Jahre Arbeiter, der noch ehrlich seine Familie ernähren konnte, ist nicht mehr existent. Angesichts demografischer Probleme kann man von der jungen Generation nicht verlangen, dass sie schlechtere Bedingungen in Kauf nehmen, nur um ein ideologisch verbrähmtes Trugbild einer zu erhalten, das von einer Generation gepflegt wird, die ohnehin ihre Schäfchen im Trockenen haben.