Kinder aus armen Familien fühlen sich in der Schule ungerecht behandelt

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FRIEDRICHSDORF. Die überwältigende Mehrheit der Kinder in Deutschland beurteilt die Schule als „sehr gerecht“ (22 %) oder als „eher gerecht“ (56 %). Mit „eher ungerecht“ (16 %) und „sehr ungerecht“ (3 %) beurteilen ein knappes Fünftel der Kinder die Schule eher negativ – und das sind vor allem Kinder aus armen Familien. Dies sind Ergebnisse der dritten World Vision Kinderstudie, die nun vorgestellt wurde.

Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm. Foto: Greg Westfall / Flickr (CC BY 2.0)
Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm. Foto: Greg Westfall / Flickr (CC BY 2.0)

Im Auftrag der Kinderhilfsorganisation haben die Kindheitsforscherin Prof. Dr. Sabine Andresen und der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Hurrelmann  zusammen mit TNS Infratest Sozialforschung, München, zum dritten Mal 2500 Kinder in Deutschland über ihre Lebenssituation und ihr Wohlbefinden befragt. Ziel ist es den Initiatoren zufolge, „auch den sechs- bis elfjährigen Kindern eine Stimme zu geben, ihnen zuzuhören, ihre Sichtweisen kennen zu lernen und daraus Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft abzuleiten“. Die letzten beiden World Vision Kinderstudie erschienen 2007 und 2010.

Die neue repräsentative Studie zeigt, dass Kinder ein hohes Gerechtigkeitsempfinden haben, und zwar nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern dass sie auch Gerechtigkeit für andere fordern. Allerdings soll dafür auch jeder etwas beitragen. In Bezug auf den Umgang mit armen Menschen empfindet eine überwiegende Mehrheit der Kinder, dass die Gesellschaft in Deutschland diese ungerecht behandelt. Andresen betont: „Es ist wieder einmal erstaunlich, mit welcher Klarheit Kinder ihre Umwelt und ihre Mitmenschen betrachten und bewerten. Selbst Kinder ab drei Jahren haben bereits ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und teilen beispielsweise Süßigkeiten relativ gerecht auf. Betrüblich ist, dass sich in Bezug auf benachteiligte Kinder wenig getan hat.“

Vier Fünftel der befragten Kinder sind (sehr) zufrieden mit ihrem Leben. Dafür kann den Autoren zufolge aber ein Fünftel der befragten Kinder als „abgehängt“ bezeichnet werden. Diese Kinder seien von Armut oder Armutsgefährdungen betroffen, sie fühlten sich in ihrer Meinung nicht wertgeschätzt und ernst genommen, sie hätten weniger positive Erwartungen an ihre Zukunft und sie fühlten sich unter anderem in der Schule ungerechter behandelt als die anderen Kinder.

32 Prozent der Kinder wachsen in Familien auf, in denen nur ein Elternteil arbeitet. Zwölf Prozent der Kinder wachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil auf, der auch in Vollzeit arbeitet. Diese Kinder und Kinder von arbeitslosen Eltern beklagen sich am häufigsten, dass ihre Eltern zu wenig Zeit hätten. Kinder, bei denen Mutter und Vater arbeiten, beklagen sich am wenigsten über den Zeitmangel ihrer Eltern.

Seit der ersten Kinderstudie im Jahr 2007 ist der Anteil der Kinder, die eine Ganztagsschule oder -klasse besuchen, deutlich angewachsen. Bei den 8 bis 11-Jährigen hat er sich in den letzten sechs Jahren fast verdoppelt. Insbesondere von Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen wird das Angebot verstärkt genutzt. Eine überwiegende Mehrheit der Ganztagsschülerinnen und -schüler sind mit dieser Form der Schule zufrieden, unzufrieden äußern sich dagegen Kinder aus sozial angespannten Verhältnissen. Diese Kinder sind sich jedoch der Bedeutung eines guten Schulabschlusses sehr bewusst, resignieren aber in zunehmendem Alter, weil sie aufgrund mangelnder Förderung diese Ziele oft nicht erreichen können. Vor dem Hintergrund fordern die Wissenschaftler mehr Investitionen in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen.

Auch in Bezug auf das Freizeitverhalten zeigen sich gravierende Unterschiede zwischen Kindern mit verschiedenen Herkunftshintergründen.  Dies zeigt sich unter anderem im Medienkonsum als auch in der Mitgliedschaft in einem Verein. Kinder der Oberschicht und der oberen Mittelschicht sind mit etwa 80  bis über 90 Prozent Mitglied in mindestens einem Verein oder einer festen Gruppe oder nutzen ein sonstiges (zum Beispiel musisch-kulturelles) Angebot. Auch die Mittelschicht ist konstant in Vereinen vertreten. Dagegen liegt der Anteil der Kinder aus der Unterschicht, die Mitglied in einem Verein oder einer festen Gruppe sind, in allen bisherigen drei Kinderstudien unter 50 Prozent und ist besonders starken Schwankungen unterworfen.

Die World Vision Kinderstudie zeigt auch, dass Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten die geringsten Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Alltag haben. Deutlich weniger als der Durchschnitt dürfen sie entscheiden, mit welchen Freunden sie sich treffen oder was sie in der Freizeit unternehmen möchten. Hurrelmann betont: „Kinder brauchen ein kindgerechtes Umfeld und eine kinderfreundliche Gesellschaft. Wir hoffen, dass wir mit dieser Studie der neuen Bundesregierung Erkenntnisse an die Hand gegeben haben, die ihnen ermöglicht an einer Gesellschaft zu arbeiten, die Kindern eine gute Zukunft ermöglicht.“

Die internationale Kinderhilfsorganisation fordert angesichts der Ergebnisse die neue Bundesregierung auf, mehr Politik für Kinder zu wagen, Kinder in Familie, Schule und in Bereichen, wo die Belange von Kindern betroffen sind, anzuhören und sie bei Entscheidungen zu befragen. Christoph Hilligen, Vorstand World Vision, betont: „Der Abbau von finanziellen, sozialen und kulturellen Ungleichheiten sollte im Vordergrund einer neuen Politik stehen. Diese Forderung ergibt sich aus der Verfassung der Bundesrepublik und garantiert jedem Gesellschaftsmitglied ohne Ansehen ihres Alters, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts ein würdiges Leben.“  News4teachers

Zum Bericht: Weniger Kinderarmut? Forscher hält Statistik für irreführend

 

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realo
10 Jahre zuvor

Da ist es ja wieder, das gewünschte Ergebnis einer Kinderstudie durch eine Kinderhilfsorganisation.