Eine Liebeserklärung an meine Frau, eine Lehrerin

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HAMBURG. Der Journalist Alan Posener hat mit einem Kommentar in der „Welt“ über eine Lehrerin, die sich in einem Wutbrief an die Eltern über ihre Schüler beschwerte, für Aufsehen gesorgt. Seinen Ärger über „die Sarrazins und Verbiestertfelds dieser Welt“ könne aber nur richtig verstehen, wer seinen Beitrag „Ein Lächeln verhindert den Bürgerkrieg“ kenne. Den hat Posener vor 13 Jahren geschrieben; der Text erschien in der „Welt“. „Ich halte ihn für einen meiner besten, vielleicht weil er eine Liebeserklärung ist“, schreibt der prominente Autor – eine Liebeserklärung an seine Frau: eine Lehrerin, die an einer Grundschule im Berliner Bezirk Wedding Kinder aus der Türkei und dem Libanon, aus Bosnien und Mazedonien, Polen und Russland unterrichtet. Posener hat den Beitrag News4teachers zur Verfügung gestellt.

Der prominente "Welt"-Kolumnist Alan Posener hat News4teachers einen Beitrag zur Verfügung gestellt - eine Liebeserklärung an seine Frau, eine Lehrerin. Foto: Grohe
Der prominente „Welt“-Kolumnist Alan Posener hat News4teachers einen Beitrag zur Verfügung gestellt – eine Liebeserklärung an seine Frau, eine Lehrerin. Foto: Grohe

Ein Lächeln verhindert den Bürgerkrieg

Den Unterricht hat sie auf die „nullte Stunde“ gelegt, damit er nicht ausfällt, wenn sie für Vertretungen gebraucht wird. Das kommt oft vor. Wer Tag für Tag mit Kindern eingesperrt wird, macht jede Grippewelle mit. Und dann gibt’s die Ausgebrannten und Erledigten: Der eine hat’s, medizinisch schwer nachprüfbar, im Kreuz und schielt nach der Frühpensionierung; eine andere ist schwer krank, schleppt sich Tag für Tag zur Schule, und schafft das volle Pensum dann doch nicht; wieder eine andere reagiert auf jede zusätzliche Zumutung, indem sie sich drei Tage krank meldet; welcher Schulleiter wird so unvorsichtig sein, ihr eine Vertretungsstunde aufzubrummen?

Zwanzig hauptsächlich braune Augenpaare verfolgen mehr oder weniger aufmerksam die Lehrerin, die an der Tafel erklärt, warum im Deutschen „Mädchen“ sächlich sind. Sieben deutsche Augenpaare dazu, und die Klasse ist vollständig, was selten vorkommt. Ein libanesisches Mädchen muss für ihre Mutter auf dem Sozialamt dolmetschen. Ein neuer Kühlschrank ist zu beantragen, oder ein Wintermantel, oder ein Zuschuss für die Klassenreise. Ein albanischer Junge ist vorübergehend untergetaucht, nachdem ein Motorrad verschwunden ist. Die Kinder wissen, auf welchem Hinterhof es steht; aber das heruntergekommene Haus – an dem sich ein deutscher Spekulant eine goldene Nase verdient – ist voller Kosovaren, und der Kontaktbereichsbeamte möchte gern seine Pensionierung erleben. Wenn der Tank leer ist, taucht das Gerät ja wieder auf.

In diesem Innenstadtbezirk gelten andere Regeln als in den bürgerlichen Vierteln, wo die roten, grünen, gelben und schwarzen Politiker wohnen. Ein türkisches Mädchen büchst vor der Zwangsehe aus. In dunkler Frühe klingelt es bei der Lehrerin. Die schnauzbärtigen Männer der Familie begehren Einlass: Nachsehen, ob sich das flüchtige Mädchen dort versteckt. Mitten im Unterricht klopft es; draußen stehen zwei Frauen mit Kopftuch. Die ältere erklärt: Aus Bosnien seien sie und seit sieben Jahren hier „geduldet“. Die jüngere sei inzwischen 13 (sie sieht aus wie 16) und es wäre besser, wenn sie zur Schule ginge, nicht? Sie sei brav und werde bestimmt bald deutsch lernen. Ein deutscher Junge ist bleich und verstört. Die Mutter zieht abends immer um die Häuser, ist seit einigen Tagen nicht nach Hause gekommen. Die Lehrerin ruft an drei verschiedenen Tagen bei der Familienfürsorge an und hat es mit drei verschiedenen Beamten zu tun, die alle die Akte nicht finden können. Ein anderer Junge verweigert die Mitarbeit, seit sein arbeitsloser Vater trinkt und die Mutter verprügelt.

Für viele dieser Schüler sind Ferien eine Strafe, die Schule, so herunter gekommen und unwirtlich der Backsteinkasten aus dem vorvorigen Jahrhundert ist, ein Ort des Lichts und der Geborgenheit.

Zwei Lehrerzimmer gibt es, ein geräumiges und eine Art Besenkammer für die Raucher. In den Pausen ist die Besenkammer voll. Es sind fast alles Frauen. Männer sind nicht so hart im Nehmen, nicht so selbstlos im Geben. Der idealistische Vertreter der „kompensatorischen Erziehung“ gab auf und wurde Lehrplanentwickler; der Politische, der einmal einen frech gewordenen kroatischen Jungen den Flur hinunterprügelte, machte Karriere als Bildungspolitiker bei den Grünen; der mit den Disziplinproblemen in der ersten Klasse ist Schulrat geworden.

Grau ist alle didaktische Theorie, grün des Unterrichtens goldener Baum. In ihrer fünften Klasse hat die Lehrerin mehrsprachige Analphabeten und Bücherverschlinger (wenige, zugegeben), helle und dumpfe Köpfe, Halbstarke und halbe Kinder beieinander. Für solche undifferenzierten Situationen haben die Erziehungswissenschaftler das Konzept der „Binnendifferenzierung“ parat: Jeder nach seinen Fähigkeiten. Hier geht es aber darum, jedem nach seinen Bedürfnissen zu geben. Und die sind vor allem emotional: Der junge Macho Mohammed braucht ein ernstes Wort, der dicke Außenseiter Maik eine kurze Umarmung, die kluge Layla ein Zwinkern, die überforderte Gülca Aufmunterung. Und alle immer wieder ein Lächeln, das ihnen sagt: Wenn ihr was leistet, macht ihr mir Freude. 30 Fehler statt 50 im Diktat? Ein schöner Erfolg, auch wenn das nach Rahmenrichtlinie trotzdem eine Sechs bleibt. Das verlorene Lehrbuch wieder gefunden? Nein, aber Geld für ein Ersatzbuch mitgebracht, frag nicht woher. Gut. Die Unterschrift erbettelt, die dem muslimischen Mädchen erlaubt, die Klassenfahrt mitzumachen? Super! Hier wird Wichtigeres noch gelernt als Rechtschreibung und Grammatik nämlich Leitkultur: Zivil miteinander umgehen. Ausreden lassen. Verantwortung übernehmen. Die Klasse aufräumen. Sich entschuldigen, wenn man ein Mädchen „Hure!“ genannt hat. Sich beschweren, wenn die Sportlehrerin einen triezt. Rechtschreibung und Grammatik auch. Und immer Lächeln dazu. Das Lächeln gilt es, sechs Stunden durchzuhalten, ohne dass es zur Maske gefriert. In der S-Bahn liest die Lehrerin einen Roman, schläft ein und verpasst ihren Bahnhof.

Seit beinahe 25 Jahren unterrichtet sie an dieser Schule. Kein einziges Mal hat sie der Schulrat im Unterricht besucht. Nie war hier ein Abgeordneter zu Besuch. Wenn sie nicht krank wird, hat sie beinahe 15 Jahre Arbeit an diesem vergessenen Ort vor sich. Einfacher wird es nicht, Karriere gibt es nicht, und die Rente wird auch durch mehr Arbeit nicht mehr. Wenn sie in geselliger Runde ihren Beruf nennt, macht das keinen Eindruck. Manchmal, wenn der Wecker klingelt, ist die Versuchung groß, einfach liegen zu bleiben. Aber sie steht auf und lächelt. Weil das jeden Tag Tausende tun, gibt es das Wunder der Pisa-Studie: Dass die Zahlen nicht noch schlechter sind. Dieses Lächeln in den Klassenzimmern vor allem bewirkt, dass es auf Deutschlands Straßen nicht zum Bürgerkrieg kommt. ALAN POSENER

Der Artikel erschienen erstmalig 2001 in der „Welt“.

Zum Bericht: Nach Wutbrief an Eltern: Journalist rät Lehrerin, den Beruf zu wechseln

Zum Kommentar: Erziehen in der Schule – ja, aber …

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1 Kommentar
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Uschi Cremer
10 Jahre zuvor

..und so ist es immer noch. Ein Danke für diesen Beitrag. Nach 34 Jahren an solch einer Schule baut es mich noch mal auf 🙂
Das Schöne: In die dankbaren Augen zu sehen, auch nach vielen Jahren, wenn ‚Ehemalige‘ mich mal besuchen kommen.