Umzugsaktion: Wie eine Grundschule von 20 Millionen Ameisen befreit wurde

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LÜTAU. Wochenlang werden 150 Grundschüler in Schleswig-Holstein von 20 Millionen Ameisen terrorisiert. Ein Insektenspezialist beendet jetzt den Spuk: Zusammen mit Helfern in weißen Schutzkitteln organisiert er den Umzug der säurespritzenden, aber streng geschützten Insekten.

Ein einzelnes Exemplar stört wenig - 20 Millionen Stück schon: Waldameise. Foto: Untilone / Wikimedia Commons
Ein einzelnes Exemplar stört wenig – 20 Millionen Stück schon: Waldameise. Foto: Untilone / Wikimedia Commons

Rund 20 Millionen Ameisen haben die Grundschule Lütau im Kreis Herzogtum Lauenburg verlassen müssen. Der Biologe und Insektenspezialist Eberhard Baur aus Hamburg siedelte die 20 Nester umfassende Kolonie der Kahlrückigen Waldameise (Formicapolyctena) in einen Wald um. Schulleiterin Angela Harting hatte den Experten gerufen, weil sie keinen geregelten Schulbetrieb aufrechterhalten konnte. Bis zuletzt hatte die Pädagogin versucht, ihre 150 Schüler mit «Barrieren» aus Zimt oder Kalk vor den krabbelnden Plagegeister zu schützen, die ihre Nester überall auf dem Gelände der Schule gebaut hatten.

Umweltschützer hätten ihr erklärt, das seien für die Ameisen unüberwindbare Barrieren. Doch die Insekten fanden immer wieder Wege, um in das Gebäude einzudringen. Dort bauten sie neue Nester unter dem Dach, sorgten für einen Kurzschluss in den elektrischen Leitungen und störten immer wieder den Unterricht. «Drei Klassenräume mussten kurzfristig gesperrt werden», sagt Harting. Einmal musste sogar ein Wandertag organisiert werden, weil Klassenräume von Ameisen besetzt waren.

Die Waldameise steht unter Naturschutz. Mit Gift oder einer «chemischen Keule» darf man ihr daher nicht zu Leibe rücken, erklärt Biologe Baur. Die Tiere müssen stattdessen unter Einhaltung spezieller Vorschriften umgesiedelt werden. Für die «Zwangsräumung» hat Baur rund ein Dutzend Helfer dabei –  Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen – die Hosenbeine an den Knöcheln zugepflastert. «Bewaffnet» sind sie mit Spaten und großen Umzugskartons aus Pappe, dazu zum Eigenschutz einen Handfeger, um wütende Ameisen vom Körper zu bürsten. Denn die wehrhaften Insekten müssen keine Rücksicht nehmen. Wenn sie sich angegriffen fühlen, spritzen sie mit dem Hinterleib ätzende Ameisensäure gegen ihre Feinde und beißen sie mit ihren Mundwerkzeugen.

Der Ameisen-Umzug ist schweißtreibende Knochenarbeit, denn manche ihrer Bauten gehen tiefer als zwei Meter in die Erde. Erst dort unten stoßen die Helfer auf den sogenannten Nestkern – meist ein morsches Holzstück, in dem die Königinnen und die Brut leben. Ein Bagger darf beim Graben jedoch nicht helfen: Er würde die kleinen Ameisen nicht retten, sondern zerquetschen, erklärt Baur.

Zum Beginn der Umzugsaktion am frühen Morgen hört man noch ab und zu ein nervöses Lachen, denn der Anblick ist eigentlich unfassbar: Die ganze Erde wimmelt schwarz, wie ein Teppich bedecken die Ameisen den Boden. Manche Nester liegen gerade einmal zwei Meter voneinander entfernt.

Später wird es stumm, als die Frauen und Männer beginnen, die Ameisen mitsamt ihrer «Stadt» schichtweise auszugraben. Die Erdbrocken voller Höhlen und Gänge kommen in Umzugskartons aus Pappe. Pro Nest brauchen sie etwa fünf Kartons. Die kleinen Ameisen scheinen diese Rücksicht jedoch nicht zu würdigen. Vom Hänger des Umzugwagens tönt aus den zugeklebten Kartons ihr aggressives Rascheln und Kratzen, und der leichte Wind treibt immer wieder dicke Wolken ätzender Ameisensäure vor sich her: Der stechende Geruch brennt unangenehm in der Nase.

Doch Baur stört die Wut der kleinen Krabbler nicht. «Es ging um die Frage: Schule oder Ameisen. Beides zusammen funktioniert an dieser Stelle nicht», sagt er. Also müsse er «lebensfähige Völker an anderen Stellen etablieren, an denen sie niemanden stören».

Am Zielort werden die Kartons von den Helfern in umgekehrter Reihenfolge behutsam wieder entleert. Doch alle menschliche Mühe nützt nichts, weiß Experte Baur: «Aus Sicht der Ameisen ist der Neubau ein Chaos. Wir müssen ihnen daher die Chance geben, dieses Chaos rechtzeitig vor dem Winter wieder auf Vordermann bringen und in einen richtigen Ameisenhaufen zurückzuverwandeln.» Dazu gehört unter anderem, das verzweigte System aus Kammern und Gängen wieder so herzurichten, dass kein Regenwasser in den Bau eindringen kann. Wolfgang Runge, dpa

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