„Wozu gehst Du eigentlich Schule?“ Ist Kiezdeutsch das Hochdeutsch der Zukunft?

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BERLIN. Kiezdeutsch ist kein reines Migrantenphänomen, sondern verstärkt nur, was in der Sprache ohnehin Trend war. Zu diesem Schluss kommt die Soziolinguistin Diana Marossek, die ein Jahr lang Berliner Schüler beim Reden beobachtet hat. Kiezdeutsch ist demnach auch in bürgerlichen Wohnvierteln Alltag – und Lehrer werden angesteckt.

Der neue Trend im Berliner Kiezdeutsch klingt noch gewöhnungsbedürftig. «Ich komm mit Fahrradmahrrad» oder «Ich bring Colamola». Das heißt so viel wie: Irgendwie komme ich wahrscheinlich mit dem Fahrrad. Und ich bringe dann auch Cola mit, übersetzt Heike Wiese, Sprachwissenschaftlerin an der Universität Potsdam. Ihre Germanistik-Studenten haben Teenagern diese Sätze in türkisch geprägten Stadtteilen wie Kreuzberg und Wedding abgelauscht. Das spielerische Wiederholen eines Wortes mit einem «m» davor habe seinen Ursprung im Türkischen, ergänzt Wiese. Für sie waren die Jugendlichen in Berlins Migrantenvierteln sprachlich damit wieder einmal sehr kreativ.

Beschwerden über den Sprachverfall bei der Jugend sind fast so alt wie die Sprache selbst. Ist Kiezdeutsch die Avantgarde des Sprachwandels? Foto: Zeitfixierer / flickr (CC BY-SA 2.0)
Beschwerden über den Sprachverfall bei der Jugend sind fast so alt wie die Sprache selbst. Ist Kiezdeutsch die Avantgarde des Sprachwandels? Foto: Zeitfixierer / flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Meinungen über Kiezdeutsch, das bei mehrsprachigen Jugendlichen besonders dynamisch und wandlungsfähig ist, gehen aber noch immer weit auseinander. Als Wiese vor zwei Jahren ein Buch zur Dialektgrammatik in Kreuzberg veröffentlichte und Sätze wie «Machst du rote Ampel?» nicht verwerflich, sondern eher innovativ fand, kochte die Volksseele hoch. Gelegt haben sich die Anfeindungen immer noch nicht ganz, berichtet sie. «Sprache ist wohl einer der wenigen Bereiche, in dem man noch offen rassistisch sein kann.» Ghettosprech oder Türkendeutsch sind dann noch die netteren Bezeichnungen.

Dabei hat Kiezdeutsch weder in Berlin noch in anderen deutschen Städten automatisch etwas mit Migration zu tun. Das hat jüngst die Berliner Soziolinguistin Diana Marossek in ihrer Doktorarbeit belegt, die nun für den Deutschen Studienpreis nominiert ist. Marossek, die in Berlin einen Kinderbuchverlag leitet, war dafür ein Jahr lang in 30 Berliner Schulen zu Gast. Als Referendarin getarnt saß sie hinten im Klassenzimmer. Von ihrer Sprachforschung ahnten die Schüler nichts.

In allen Berliner Bezirken hörte die Doktorandin zu, wie insgesamt rund 1400 Acht- und Zehntklässler miteinander redeten. Sie notierte zum Beispiel, wie oft Teenager mit Deutsch als Muttersprache «zum» oder «beim» wegließen. Ob im tiefbürgerlichen Zehlendorf oder in den Migrantenvierteln Neuköllns – sie fand keine großen Unterschiede. Überall fielen Sätze wie «Kommst du mit Klo?» oder «Ich war Fußball».

«Auf das Thema Kiezdeutsch bin ich gekommen, als ich gehört habe, wie seltsam meine jüngere Schwester und ihre Freunde miteinander geredet haben», erinnert sich die Linguistin. «Heute weiß ich, dass es auch die Sprache von Schülern ohne Migrationshintergrund ist.»

Nur von türkischen Klassenkameraden hätten diese Teenager ihr Kiezdeutsch dabei nicht abgekupfert, ist Marossek überzeugt. Denn auch die «Berliner Schnauze» liebe das Verkürzen und Weglassen von Artikeln und Präpositionen. «Bist du gerade auf Arbeit?» gilt in der Umgangssprache der Hauptstadt als normale Frage. Nicht nur hier. «Auf Schicht sein» kennt auch das Ruhrgebiets-Deutsch. Dort sind auch Grammatik-Konstruktionen wie «Tu ma die Mama winken» oder «Meine Oma ihre Tasche» nicht nur ein Fall fürs Kabarett. Für Marossek haben sich damit zwei ähnliche Trends – deutsche Dialektgrammatik und Übernahmen aus der Muttersprache von Migranten – gefunden und verbunden.

«Kiezdeutsch verstärkt, was ohnehin schon da war», sagt auch Forscherin Heike Wiese. Im gesprochenen Deutsch gebe es schon seit langem den Trend, Artikel und Präpositionen zu verkürzen oder wegzulassen. «Darüber haben sich die Leute schon in den 1930er Jahren aufgeregt», schmunzelt sie. Gebremst hat das die Entwicklung nicht. Mit Bildung hat es auch nichts zu tun. Haltestellen-Sprache wie «Ich bin jetzt Zoo» brüllen in der U-Bahn auch Akademiker ungeniert in ihr Handy.

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Und es gibt noch eine Erkenntnis. Heike Wiese geht davon aus, dass der Einfluss des Türkischen auf das Deutsche weit weniger stark ist als umgekehrt. Wissenschaftler beobachteten seit einer Weile, dass sich in Deutschland das Türkische stark verändert – es übernehme deutsche Ausdrücke und auch Konstruktionen aus der deutschen Grammatik, berichtet sie.

Einfluss hier, Einfluss dort: Diana Marossek geht davon aus, dass Sätze wie «Gehst du Bus oder bist du mit Auto?» in Zukunft zur ganz normalen Hauptstadtsprache gehören werden. Auch für Forscherin Wiese passt ein solcher Satzbau gut ins Deutsche – und findet sich deshalb nicht nur im Kiezdeutsch. «Allerdings betrifft das nur einen bestimmten Bereich von Sprache, vor allem Gespräche unter Freunden», erläuterte sie.

Kiezdeutsch stehe bei vielen Jugendlichen für das entspannte Plaudern unter Freunden – und manchmal auch für Provokation. Schüler wüssten dabei meist genau, wie ein Satz im Standard-Deutsch laute. Das glaubt Diana Marossek nicht. «Am Gymnasium ja, aber an anderen Schulen war ich mir da nicht immer sicher», sagt sie. Doch selbst Lehrer, die sich zuerst über Kiezdeutsch amüsierten, hätten später unwillkürlich Artikel weggelassen. Dazu gibt es Kostproben in der Doktorarbeit. Schüler Sebastian sagt: «Ich brauche Locher!». Und seine Lehrerin antwortet: «Ist Locher nicht vorne drin?»

Für ihre Studie war Diana Marossek an 30 Schulen in allen Bezirken zu Gast und belauschte rund 1400 Acht- und Zehntklässler aller Schulformen. Einige ihrer dokumentierten Schüler-Dialoge:

• Ali: «Verstehst du Text, man?» Marco: «Klar, man, is doch leicht: Typ geht Wasser und is tot. Seine Alte is traurig.» Ali: «Aber wieso geht er denn Wasser? Hast du Essen?» Marco: «Nee, aber ich gehe dann Döner.»

• Pascal: «Alter, lass mal noch schnell rauchen.» Mike: «Ich muss erst Späti Kippen holen.» Melanie: «Kommt jemand mit Klo?»

• Ali: «Ich mache ein Praktikum als Krankenpfleger.» Nimed: «Das ist aber Mädchenberuf.» Ali: «Quatsch nich, gibs auch Männer, du Quatschkopp.» Nimed: «Spast, Alter!» Lehrer: «Benehmt euch!» Ali: «Er hat doch angefangen, der Kunde, Alter.» Lehrer: «Nimed, erzähl uns doch mal, was du machst!» Nimed: «Ich gehe Hartz IV-Amt. Nein, quatsch, ich gehe nicht Hartz IV-Amt. Ich versuche Kaufmann in‘ Einzelhandel.»
• Tom: «Matti, kommst du mit Englisch oder willst du hier hocken bleiben?» Matthias: «Kein Bock, man. Ich wette, wenn ich Englischraum betrete, krieg ich Kopfschmerzen.» Felix: «Du kriegst Durchfall, man.» Tom: «Wenn du Englischraum betrittst, kriegt Frau M. Durchfall.» Felix: «Komm jetzt. Wenn ich dieses Jahr wieder so oft zu spät komme, darf ich nicht mehr Basketball.» (Ulrike von Leszczynski, dpa)

– zur Dissertation von Diana Marossek (TU-Berlin)
– Infoportal der Uni-Potsdam zu Jugendsprache in urbanen Wohngebieten mit hohem Migrantenanteil (mit Handreichung für Schulen)

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sofawolf
9 Jahre zuvor

In der Sprache gibt es immer eine „Tendenz zur Kürze“. Alles, was (im jeweiligen Kontext) klar ist, lässt man weg. Jeder kennt das. Auf die Frage: „Kommst du mit?“ antwortet man nicht unbedingt mit „Ja, ich komme mit“, sondern einfach mit „Ja.“ (Oder „Nein.“). Auf „Wohin gehst du?“ sagt man kurz „Ins Kino“ und nicht unbedingt „Ich gehe ins Kino“. Der Artikel „eine“ wird gerne zu „ne“ verkürzt. Statt „Da kuckst du“ sagt man „Da kuckste“ usw.-usf. Ich habe mich auch schon ertappt, zu sagen „Ich steige Leopoldplatz aus“ (ohne -am-). Ich glaube dennoch, das meiste davon bleibt dem Alltagsdeutsch vorbehalten und vieles auch nur der Jugendsprache.