Immer mehr chronisch kranke Kinder – Krankenhausschule hilft beim Lernen und der Therapie

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GAILINGEN. Junge Patienten mit neurologischen Krankheiten oder Verletzungen müssen viele Dinge oft mühsam wieder neu lernen – beispielsweise Sprechen oder Laufen, aber auch Mathematik oder englische Vokabeln.

Es ist ein kurzer Moment in Tobias‘ Leben, der ihn zwingt, wieder ganz von vorne anzufangen. Im März läuft er in Aschaffenburg über einen Zebrastreifen und wird von einem Auto angefahren. Die Folge: Tobias liegt mit einem Schädelbruch im Koma.

Als er wieder aufwacht, ist er auf der rechten Seite gelähmt. «Ich konnte am Anfang überhaupt nicht mehr reden», sagt der 22-Jährige. «Nur einzelne Wörter.» Ihm fallen die Namen seiner Freunde nicht mehr ein, den Code für sein Handy hat er vergessen – und das Laufen muss er auch wieder neu lernen. Seit einigen Monaten ist Tobias deshalb in der Krankenhausschule in Gailingen (Kreis Konstanz).

Nach einem Unfall müssen viele Patieten grundlegende Dinge wieder lernen. (Foto: Wiesbaden112.de/Flickr CC BY-NC-ND 2.0)
Nach einem Unfall müssen viele Patieten grundlegende Dinge wieder lernen. (Foto: Wiesbaden112.de/Flickr CC BY-NC-ND 2.0)

Die Wilhelm-Bläsig-Schule ist spezialisiert auf Fälle wie Tobias: Die staatlich anerkannte Privatschule ist an das neurologische Fachkrankenhaus und Rehabilitationszentrum Hegau-Jugendwerk angeschlossen. Dieses bietet neben dem Schulunterricht auch Rehabilitationsmaßnahmen an. In vielen vergleichbaren Einrichtungen gehe es hauptsächlich darum, versäumten Schulstoff aufzuholen, sagt der Schulleiter Rüdiger Becker. «In den meisten Fällen hat die Krankheit der Patienten keine Folgen für das Lernen.» Anders in Gailingen: Viele neurologische Krankheiten oder Verletzungen wirken sich auch auf die Lernfähigkeit der Kinder und Jugendlichen aus.

«Mir sind manchmal die Wörter nicht eingefallen», sagt Lena. Die 16-Jährige aus Schwäbisch Hall ist seit Mai in der Klinik, bei einem Reitunfall hatte sie ein Schädelhirntrauma erlitten. «Ich wusste zwar, was ein Kugelschreiber ist, konnte aber den Namen dazu nicht sagen.» In Gailingen übt sie unter anderem mit Logopäden, solche Wörter einfach zu umschreiben. Andere Schüler haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, für längere Zeit an einer Aufgabe zu arbeiten.

«Wir schauen als erstes: Wie geht es dem Patienten, was verhindert im Moment seine Teilhabe, welche Probleme hat er, wie kann er überhaupt lernen», sagt der Konrektor Jörg Rinninsland. Für jeden Schüler wird ein Rehabilitationsprogramm erstellt, das im Laufe der Therapie immer wieder an neue Entwicklungen angepasst wird. «Wir versuchen, die Schüler wieder auf ein Leben draußen vorzubereiten.»

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Dabei führt nicht jeder Weg zurück in den früheren Alltag: Manche Verletzungen oder Erkrankungen sind so schwer, dass die Schüler dauerhaft auf eine Förderschule gehen sollten oder gar pflegebedürftig sind. «Die Jugendlichen müssen einen radikalen Bruch in ihrem Leben aushalten», sagt Becker.

Die Wilhelm-Bläsig-Schule bildet die komplette Schullandschaft in Deutschland ab: Es gibt Unterricht auf Grund- und Realschulniveau ebenso wie im sonderschulischen und gymnasialen Bereich. Neben den Lehrkräften arbeiten Erzieher, Heilpädagogen sowie Sozialpädagogen mit in dem rund 50-köpfigen Team.

Nicht jedes Krankenhaus in Baden-Württemberg hat eine Schule. Nach Angaben des Kultusministeriums gibt es diese Einrichtungen vor allem an Universitätskliniken, Kinder- und Jugendpsychiatrien und an Kliniken mit einem onkologischen Angebot für Kinder. Derzeit gibt es 47 Schulen für Kranke im Südwesten, im Schuljahr 2013/2014 lernten dort 2362 Schüler. Wie viele Schulen es bundesweit sind, ist unklar: Dem Bundesbildungsministerium, dem Statistischen Bundesamt und der Kultusministerkonferenz liegen dazu keine konkrete Zahlen vor.

Die Aufgaben der Schulen hätten sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert und ausdifferenziert, heißt es beim Ministerium. Durch den medizinischen Fortschritt und neue Therapiemethoden seien die klinischen Behandlungszeiten deutlich reduziert worden. «Gleichzeitig ist eine Zunahme von Schülerinnen und Schülern sowohl mit psychischen als auch mit chronischen Erkrankungen zu beobachten.»

Tobias hat das Laufen und Sprechen in wenigen Monaten wieder gelernt, nun arbeitet er daran, sich noch besser bewegen und konzentrieren zu können. Da der rechte Arm nicht so richtig will, hat er inzwischen das Schreiben mit Links geübt. «Klappt schon ordentlicher, als mit rechts», sagt der 22-Jährige. Langfristig will er auf die Fachoberschule zurück – aber nach dem Krankenhausaufenthalt geht es erst mal in den Urlaub. «Das habe ich mir verdient.» Kathrin Drinkuth

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