Verein „Länger gemeinsam lernen“ äußert scharfe Kritik am Philologenverband und fordert: Gymnasien müssen sich mehr öffnen

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WEINGARTEN. Der baden-württembergische Verein „Länger gemeinsam lernen“ tadelt in einer E-Mail den mit der näher rückenden Landtagswahl rauer werdenden Ton in der Schuldiskussion im Land und die fehlende Sachlichkeit, „die für eine gute Schulentwicklung nötig wäre“. Mit seiner Kritik am Philologenverband, die hohe Abschulungsquote allein auf die unverbindliche Grundschulempfehlung zurückzuführen, wolle der Verein zur Versachlichung der derzeitigen Schulentwicklungsdiskussion beitragen.

„Offenbar spricht der Philologenverband seiner Lehrerschaft trotz langjähriger Ausbildung die Kompetenz differenziert zu planen und zu unterrichten ab“, so der Verein in seiner Pressemitteilung. Was Grundschulpädagogen wie selbstverständlich leisteten, indem sie einen gesamten Jahrgang individualisiert beschulten, stelle laut Philologenverband die Gymnasiallehrkräfte vor fast unlösbare Probleme, so der Verein. Und das, obwohl jene nach den Sommerferien in Klasse 5 mit nur noch etwa 40 Prozent eines Jahrgangs eine wesentlich homogenere Lerngruppe vor sich hätten. Ob diese vom Verbandsvorsitzenden Bernd Saur geschilderte Überforderung auf die gesamte Gymnasiallehrerschaft zutreffe, könne zurecht stark bezweifelt werden. Es liege der Verdacht nahe, dass es dem Lehrerverband – dem nach Vereinsangaben nur knapp ein Viertel der aktiven Gymnasiallehrerschaft angehöre – in erster Linie um die Verteidigung von Privilegien gehe.

Das achtjährige Gymnasium (G8) kommt nicht aus der Kritik. Foto: Patrick Rasenberg / Flickr (CC BY-NC 2.0)
Der Verein „Länger gemeinsam lernen“ fordert, dass Schule nicht nur vom Gymnasium aus gedacht wird. Foto: Patrick Rasenberg / Flickr (CC BY-NC 2.0)

Der Philologenverband spreche aktuell von Misserfolgserlebnissen und Frustration von Tausenden von Kindern und schiebe dafür die alleinige Schuld und Verantwortung der Landesregierung zu. Eine Verantwortung den Gymnasien zuzuschreiben oder gar eine hohe Abschulungsquote als Leistungsversagen der Schule zu werten, liege außerhalb der Vorstellungskraft des Philologenverbandes. Vehement fordere er die Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung. Dabei verschweige der Verband, dass bereits vor Aufhebung der verbindlichen Grundschulempfehlung etwa ein Drittel der Schüler mit einer Empfehlung für das Gymnasium diese Schulart vorzeitig verlassen hätte.

Traditionalismus habe gewiss auch seine guten Seiten. Hier sei er jedoch fehl am Platz. „Wir brauchen kein Bildungssystem, das sich nach wie vor an hierarchischen Schularten orientiert. Das gegliederte Schulsystem in der Sekundarstufe eins, mit dem wir weltweit nahezu allein stehen, passt nicht mehr in die heutige Zeit“, so der Verein. „Dass das flächendeckende gemeinsame Lernen auch bei uns gut funktioniert, beweisen wie erwähnt unsere Grundschulen. Obwohl in dieser Phase die Entwicklungsunterschiede der Kinder erwiesenermaßen am größten sind, liefern die Grundschulen im internationalen Vergleich beachtliche Ergebnisse.“

Baden-Württemberg brauche ein Schulsystem, das Kinder nicht mehr mit neun oder zehn Jahren auseinanderdividiere, oftmals beschäme oder zurücklasse. „Wir brauchen ist ein System, das sich den Schülern anpasst – und nicht umgekehrt.“ Nach wie vor gehe der Philologenverband mit seiner Sicht von Schule immer noch von zwei Annahmen aus, die pädagogisch unsinnig seien: Dass erstens Schülerinnen und Schüler im Gleichschritt am besten lernten und dass man zweitens Kinder nach bestimmten Merkmalen dauerhaft gruppieren und einsortieren müsse. Erfolgreiche Staaten hätten sich von diesen zwei Annahmen längst verabschiedet und sähen Schule nicht als Ort des Aus- und Einsortierens, sondern setzten stattdessen

  • auf eine „weiche Organisation“ ihres Schulsystems,
  • auf eine Schule, in der individuelle Lernförderung systematisch entwickelt würde,
  • auf eine Schule, in der Kinder und Jugendliche je nach Fähigkeiten und Begabungen unterschiedlich schnell zu unterschiedlichen Abschlüssen geführt würden,
  • auf eine Schule, die Kinder sozial mische und so einer gesellschaftlichen Spaltung keinen Vorschub leiste.

„Es ist schwer nachzuvollziehen, wie der Philologenverband an einer hierarchischen Struktur und selektiven Logik festhält, die wesentlich für die zentralen Probleme unseres Schulwesens verantwortlich sind“, so der Verein. Das Ergebnis der Trennung nach Klasse 4 sei, dass den Schwächsten eines Jahrgangs das schwierigste Lernmilieu zugemutet werde: 15 bis 20 Prozent eines Jahrgangs aller 15-Jährigen erreichten nur die Kompetenzstufe 1, was nur schwach ausgebildete Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten bedeute und letztlich eine nur eingeschränkte Ausbildungsfähigkeit zur Folge habe. In Anbetracht der demographischen Entwicklung und eines immer größer werdenden Fachkräftemangels bedeute das neben jedem Einzelschicksal einen enormen volkswirtschaftlichen Schaden. „Wenn dann von einem bewährten gegliederten Schulsystem gesprochen wird, kann das eigentlich nur von einem mangelhaften Wissensstand in der Sache herrühren oder von einer eher fragwürdigen Gesinnung.“

Im Zeitalter der Globalisierung sollte man längst festgestellt haben, dass ein „Längeres gemeinsames Lernen“ internationaler Standard sei. „Und wir sprechen hier nicht von Maori und den Antillen, sondern von vergleichbaren Staaten und Regionen wie Kanada, Neuseeland, Australien, Skandinavien, Südtirol…die Liste ließe sich beliebig verlängern“, heißt es in der Vereinsmitteilung.

Nicht alle, aber viele Staaten mit integrierten Schulsystemen arbeiteten außerordentlich erfolgreich. Alle internationalen Schulleistungsstudien hätten eines aufgezeigt: Es gebe weltweit kein früh sortierendes Schulsystem, das in den beiden entscheidenden Bereichen Leistung und Bildungsgerechtigkeit Spitzenergebnisse liefere. Das schafften nur die besten Staaten, die ein „Längeres gemeinsames Lernen“ praktizierten. Ein wichtiges Ergebnis der letzten Pisastudie beschreibe die OECD folgendermaßen: „Wenn allen Schülern möglichst lange gleiche Bildungschancen geboten werden, schneiden sie im Mittel überdurchschnittlich gut ab – und ihre Leistung hängt vergleichsweise wenig von sozialer Herkunft ab. Je früher dagegen die erste Aufteilung auf die jeweiligen Zweige eines Bildungssystems erfolgt, desto größer sind bei den 15-Jährigen die Leistungsunterschiede nach sozioökonomischem Hintergrund. Und zwar ohne dass deswegen die Gesamtleistung steigen würde.“

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Aus diesem Grund hätten mittlerweile alle Staaten – bis auf Österreich und Deutschland – den Paradigmenwechsel vollzogen: weg von einer äußeren Differenzierung in Schularten, hin zu einer inneren Differenzierung in einer gemeinsamen Schule für alle. Nationale Vergleiche unter den Bundesländern als Argument für das gegliederte Schulsystem heranzuziehen, sei Augenwischerei. Fakt sei, dass Schulleistungsstudien zu keinem innerdeutschen Schulsystemvergleich taugten, da bisher in keinem einzigen Bundesland ein flächendeckendes „Längeres gemeinsames Lernen“ existiere.

Es sei also schon längst nicht mehr die Frage, ob ein gemeinsames Lernen funktioniere. Vielmehr stellten sich andere Fragen:

  • „Sind bestimmte Gruppierungen im Schulwesen bereit, von ihren Partikularinteressen abzurücken, um gesamtgesellschaftliche Lösungsansätze im Schulwesen zu verfolgen, die nicht so viele Verlierer produzieren?
  • Sind bestimmte Gruppierungen im Schulwesen bereit, die bei uns in Baden-Württemberg eklatante und mit christlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarende hohe Bildungsungerechtigkeit anzugehen, die ursächlich mit der frühen Trennung der Kinder in hierarische Schulformen zusammenhängt?
  • Sind bestimmte Gruppierungen im Schulwesen bereit, einem immer stärkeren Auseinandertriften unserer Gesellschaft entgegenzuwirken?“

Das immer wieder vorgebrachte Argument, das Gymnasium sei schließlich die beliebteste Schulform, zeuge von wenig geistiger Anstrengung. Mit derselben Logik ließe sich behaupten, eine Suche nach Alternativen zu fossilen Brennstoffen wäre unnötig, weil die Gasheizung schließlich die beliebteste Heizmethode in Deutschland sei.

Man könne Schule nicht nur vom Gymnasium aus denken. Bei jeder Argumentation müsse immer das ganze Schulwesen mitgedacht werden. Die Möglichkeit des Abschulens auf angeblich „geringerwertige“ Schulformen verhindere die Entstehung individueller Förderkonzepte an allen Schulen. So führe das Sortieren in angeblich leistungshomogene Lerngruppen dazu, dass sich hier keine systematisch individuelle Lernförderung entwickle, sondern diese in privat finanzierte Nachhilfeeinrichtungen ausgelagert werde. 1,5 Milliarden Euro jährlich gäben die privaten Haushalte bundesweit für Nachhilfeunterricht aus – Baden Württemberg liege mit 131 Euro pro Schüler an der Spitze Deutschlands – eine weitere Verstärkung der eklatanten Bildungsungerechtigkeit, denn private Nachhilfe stehe und falle mit dem Geldbeutel der Eltern.

„Das heutige Gymnasium sollte sich im Zuge seiner Weiterentwicklung zu einer Schule wandeln, die in der Lage ist, ihre anspruchsvolle Bildung auch den benachteiligten und weniger privilegierten Kindern zukommen zu lassen.“ Das einzige, was die Gymnasien heutiger Ausprägung dann verlieren würden, sei ihr elitärer Status als die „oberen“ Schulen, die andere Schulen „unter sich“ haben. Und sie verlören die Möglichkeit, Schüler auf andere Schularten abzuschulen, wenn sie nicht mitkommen. Stattdessen übernähmen sie Verantwortung für jede einzelne Schülerin, für jeden einzelnen Schüler während der gesamten Schulzeit.

Dass bei einem gut umgesetzten „Längeren gemeinsamen Lernen“ die Guten nicht ausgebremst würden, zeige folgende, wenig bekannte Tatsache: bei den PISA-Schulleistungsvergleichen der weltweit besten fünf Prozent eines Jahrgangs könnten die wohlsortierten leistungsstärksten Gymnasiasten aus Baden-Württemberg nicht mit der Leistungsspitze der besten Staaten mit integrierten Schulsystemen mithalten, in denen die Kinder bis zum 9. oder 10. Schuljahr gemeinsam lernen.

Zum Beitrag: „Grün-Rot nimmt Schülerfrust in Kauf“ – Philologen: Viele Kinder auf dem Gymnasium überfordert
Zum Beitrag: Philologenverband warnt vor schleichender Erosion des Gymnasiums

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Reinhard
9 Jahre zuvor

.. eine Wiederholung der bekannten pädagogischen Glaubensbekenntnisse. BW hat ja die Gemeinschaftsschule, von der Regierung unterstützt und vorrangig gefördert. Wenn alle Anhänger des gemeinsamen Lernens ihre Kinder zur Gemeinschaftsschule schicken, kann sich zeigen, ob die Theorie stimmt. Warum ist es nötig, die Anhänger anderer didaktischer Konzepte zu attackieren?

drd
9 Jahre zuvor

Weil es, lieber Reinhard, um die Macht im Diskurs geht (Foucault lässt grüßen). Um eine Diskurskultur, die mit Begriffen wie „individueller Förderung“ anstrebt, performativ selbstimmunisierend zu werden. Um die Deutungshoheit in der Pädagogik. Dabei hat man nur vergessen, dass es keine „richtige“ Pädagogik geben kann in einer falschen Welt. Es geht ihnen also nicht um die Kinder, sondern um die Macht im Diskurs.

Reni
9 Jahre zuvor

Was die Pisa-Schulleistungsvergleiche nicht alles „beweisen“?! Wenn überall auf der Welt so gläubig wie in Deutschland an ihre vermeintlich objektiven, manipulationsfreien und segensreichen Interpretationen geglaubt wird, dann gute Nacht, ihr bewährten und heimeligen Kulturunterschiede und Bildungstraditionen. Dann gehört die gesellschaftliche Zukunft der Gleichmacherei durch die OECD und ihrer ökonomistischen Monokultur.
Zum Glück gibt es dann aber doch noch Stimmen, die nicht gläubig und kritiklos an den Lippen des Pisa-Papstes Andreas Schleicher hängen, um seine Lehren weiterzuverbreiten:
http://www.wiwo.de/erfolg/campus-mba/offener-brief-an-die-oecd-bildungswissenschaftler-attackieren-pisa-macher/9870422.html

Milch der frommen Denkungsart
9 Jahre zuvor

Das Kardinalproblem aber ist, daß diese besonnenen Stimmen von den Entscheidungsträgern in Politik wie Wirtschaft gar nicht gehört werden wollen.
Wie es überhaupt ein Phänomen darstellt, daß quasi über Nacht angeblich gesellschaftsübergreifende bildungs-bezügliche Konsensus festgestellt und behauptet werden, über die am Vortage nicht einmal diskutiert worden ist ! Diese werden dann insbesondere den Eltern mit dem süßen Honigseim vorgeblich progressiver Besserung schmackhaft gemacht, ja buchstäblich als entscheidende Hilfsleiter zum beruflichen Fortkommen ihrer Kinder verkauft, daß man’s den von permanentem schulischem Krisengeschrei völlig Verunsicherten nicht einmal übel-nehmen kann, wenn sie jede pädagogische Sau satteln, die da durch die Schulen getrieben wird.
Und die Noten wie Abschlüsse erreichen – oh Wunder – doch auch immer höhere Qualitätsgipfel ! Warum als-so hinter die Fassaden blicken oder gar gegen die planmäßig niveaudrückende Ökonomisierung und Velocifi-zierung von Bildung protestieren – es sei denn, man spürt deren Auswirkung wie bei G8 am durch Schulver-pflichtungen zum Bersten gefüllten, früher: erholsamen Wochenende; erst dann wird sich entrüstet.
Freilich auch wir Lehrer äußern unsere Bedenken und meist auch eintreffenden Kassandraprophezeiungen allzu oft hinter vorgehaltener Hand und lassen also mit in der Tasche geballter Faust jede schon in ihrer Genese ab-sehbare Reformkatastrophe wie Vieh über uns ergehen – kein Wunder, daß uns, die wir uns selbstbewußt als die nahezu einzigen – weil wirklich praxiserfahrenen – Bildungsexperten laut hörbar einbringen müßten, keiner mehr recht ernst nimmt.

Reni
9 Jahre zuvor

Meinen Sie nicht auch, dass die „besonnenen Stimmen von den Entscheidungsträgern in Politik wie Wirtschaft“ gehört werden müssten, wenn die sog. 4. Kraft in unserem Staate noch intakt wäre und so funktionierte wie sie sollte?
Eine fast einstimmige Medienlandschaft, in der ich verzweifelt nach anderen Stimmen als den angebotenen suchen muss, um mir ein differenziertes Bild von etwas machen zu können, ist keine unabhängige, demokratie- und meinungsfördernde Kraft mehr, sondern eine Liebdienerin der politisch und wirtschaftlich Mächtigen.
Der Form nach lebe ich zwar in einer Demokratie, dem Gefühl nach aber in einer Meinungsöde, die so gar nicht zur Staatsform passt.
Leserkommentare sind mir inzwischen wichtiger als offizielle Nachrichten und Artikel. In ihnen finde ich das, was ich suche: Unterschiedlichste Informationen, Meinungen und Denkanstöße.

xxx
9 Jahre zuvor

Man müsste mal die Mitglieder dieses Vereines fragen, auf welche Schulform sie ihre eigenen Kinder schicken. Wenn es das Gymnasium ist, müsste man weiter fragen, warum es keine Schulform mit längerem gemeinsamen Lernen ist.