Inklusion: Die Stimmung in den Lehrerkollegien ist zunehmend explosiv

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MÜNCHEN. Die Inklusion führt offenbar immer mehr Lehrer an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit. Aktuelle Meldung aus Bayern:  Immer häufiger wenden sich verzweifelte Pädagogen an seine  Rechtsabteilung, so berichtet der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV). Mehrere Brandbriefe von Lehrerkollegien, die die Einbeziehung von behinderten Schülern  in den Regelunterricht kaum bewerkstelligt bekommen, hatten zuvor bundesweit für Schlagzeilen gesorgt.

Die Stimmung in vielen Kollegien ist explosiv. Foto: Wurfmaul / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Zündstoff Inklusion: Die Stimmung in vielen Kollegien ist explosiv. Foto: Wurfmaul / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Für viele Lehrkräfte und Schulleiter zähle die Inklusion zum größten beruflichen Belastungsfaktor, so heißt es aktuell in einer Erklärung des BLLV. Auch gut fünf Jahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention durch die Bayerische Staatsregierung (2006 vom Bundestag ratifiziert) erlebten viele Pädagogen, dass die Voraussetzungen für eine gelungene Umsetzung an ihren Schulen noch immer mangelhaft seien. „Die meisten fühlen sich mit der Aufgabe allein gelassen“, prangerte BLLV-Präsident  Klaus Wenzel heute in München an. Die Tatsache, dass sich immer mehr Pädagogen an die Rechtsabteilung des BLLV wenden, wertete Wenzel als Indiz dafür, dass der Handlungsbedarf groß sei: „Lehrerinnen und Lehrer wollen Inklusion an ihrer Schule, aber sie wollen sie nicht zum Nulltarif.“

Die meisten Regelschulen seien noch immer weder personell noch räumlich auf Kinder mit Handicaps vorbereitet. Das führe im Schulalltag zu erheblichen Problemen. Die Ängste und Vorbehalte von Eltern und Lehrern seien deshalb unverändert groß. Versäumt worden sei bis heute auch, Inklusion in allen Phasen der Lehrerbildung zum Thema zu machen. „Eine erfolgreiche Inklusion ist ohne optimale Rahmenbedingungen nicht möglich – auch wenn die Staatsregierung das offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen will“, sagte Wenzel. Im kommenden Doppelhaushalt müssten daher deutlich mehr als 200 Stellen und Ressourcen für räumliche Verbesserungen eingeplant werden. Wenzel: „Die Lehrerinnen und Lehrer sind am Ende ihrer Kraft.“

Weiter meinte der BLLV-Chef: „Es gibt viele Beispiele im Freistaat, die zeigen: Schulen tun sich schwer, Inklusion so umzusetzen, dass alle Kinder davon profitieren. Vielmehr ist die tägliche Arbeit geprägt von Mängeln und Konflikten.“ Und: „Die Schüler spüren die zum Teil vergiftete Atmosphäre, Eltern verbittern, weil sie ihr Recht auf Inklusion nicht erfüllt sehen und auf Widerstände stoßen und Lehrer resignieren, weil sie die vielen Herausforderungen überfordern.“ Die Ursache für den Verdruss liegt aus Sicht Wenzels an den immer noch „völlig unzureichenden organisatorischen und personellen Bedingungen.“ Es mangele zudem an Fortbildungsprogrammen und an Angeboten zur Inklusion in der universitären Lehrerbildung.

„Für viele Lehrkräfte wäre es schon hilfreich, wenn sie besser auf die Herausforderungen vorbereitet wären“, so Wenzel. Sie wünschten sich deutlich kleinere Inklusionsklassen, bessere Möglichkeiten für Teamteaching, für Kooperationen mit Sonderpädagogen und für die Entwicklung von Förderplänen. Dringend benötigt würden auch geeignete fachliche und sachliche Lehr- und Lernmittel sowie individuelle Fördermaßnahmen. „Diese Forderungen sind nicht neu“, sagte der BLLV-Präsident. Und das sei das alarmierende –  obwohl die Not seit Jahren groß sei und alle Beteiligten unter der Situation litten, habe sich nichts getan. Die Schulen blieben mit den Problemen allein.

Beispiel Medikamentenabgabe: Viele der betroffenen Kinder sind aus gesundheitlichen Gründen auf Medikamente angewiesen. „Das Kultusministerium erklärt, dass die Verabreichung von Medikamenten bei chronisch kranken Kindern oder bei Kindern, die hierzu nicht in der Lage sind, zu den Dienstpflichten einer Lehrkraft gehört“, erklärte der Leiter der BLLV-Rechtabteilung Hans-Peter Etter. An die Lehrkräfte werde appelliert, solche Maßnahmen auf freiwilliger Basis durchzuführen. Die Folge: „Immer wieder rufen Lehrerinnen und Lehrer bei uns an, um zu erfragen, ob solche Maßnahmen überhaupt verlangt werden dürften.“ Viele fühlten sich überfordert, seien verunsichert oder gar verzweifelt. „Lehrerinnen und Lehrer sind keine medizinischen Hilfskräfte“, stellte Etter klar. Es sei skandalös, was das Kultusministerium ohne rechtliche Grundlage von ihnen verlange. Weder die gesetzliche Unfallversicherung noch die Diensthaftpflichtversicherung komme für eventuelle Fehler auf.

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Trotz aller Schwierigkeiten sei die UN-Konvention bindend – sie hat in Deutschland Gesetzeskraft. In Artikel 24 ist von einem „integrativen Schulsystem“ die Rede. Das bedeute, alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf müssen in Regelschulen aufgenommen werden, wenn die Eltern dies wünschen, so Etter. Konflikte seien hier programmiert: „Eltern haben den verständlichen Wunsch, dass ihr behindertes Kind optimale Förderung bekommt. Viele sehen den Weg dorthin im Besuch einer Regelschule. Lehrerkräfte haben die berechtigte Sorge, angesichts der ohnehin schon mangelhaften Ausstattung ihrer Schulen, den Unterrichtsausfällen und dem Lehrermangel, den Anforderungen, die ein behindertes Kind an sie stellt, nicht gerecht werden zu können. Wir müssen leider auch zur Kenntnis nehmen, dass die Konflikte in einigen Fällen eskalieren und der Rechtsweg bestritten wird“, führte Etter aus.

Mit erfolgreicher Inklusion habe dies alles nichts zu tun, erklärten Etter und der BLLV-Präsident übereinstimmend. Deshalb dürfe keine Zeit mehr verloren gehen: „Die Politik muss endlich die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung schaffen.“

Dabei komme auch den Förderschulen eine zentrale Rolle zu, ergänzte Wenzel. „Auch sie müssen in die Lage versetzt werden, diese Prozesse effektiv zu begleiten und zu ergänzen.“ Es dürfe nicht in erster Linie darum gehen, Förderzentren zu schließen und deren Personalkapazitäten zu kappen. Auch wenn sich immer mehr Eltern mit Kindern, die ein Handicap hätten, für die Inklusion in das Regelschulsystem entscheiden würden. „Förderzentren sind überall da sinnvoll, wo sie das Regelangebot hilfreich und nachhaltig unterstützen.“ Wenzel verlangte daher auch, den Mobilen Sozialpädagogischen Dienst (MSD) zu stärken und auszubauen. „Mit dem kontinuierlichen Einsatz des MSD könnten inklusive Regelschulen sehr gut unterstützt werden.“

Mehrere Brandbriefe von Lehrerkollegien, die sich mit der Inklusion überfordert fühlen, hatten unlängst für Schlagzeilen gesorgt. Erst war es das Kollegium einer Gesamtschule aus dem hessischen Kassel, das sich aufgrund von unzureichenden Rahmenbedingungen an die Politik wandte. Dann wurden zwei weitere Fälle bekannt, in denen sich Schulen mit Hilferufen an ihre jeweiligen Bildungsbehörden wandten: In Berlin warnten Grundschulleiter eindringlich vor dem Scheitern der Inklusion. In Hamburg forderten Lehrer- und Elternschaft einer Stadtteilschule gemeinsam mehr Unterstützung. Tenor: immer mehr verhaltensauffällige Kinder und eine Lehrerschaft, die auf dem Zahnfleisch geht. News4teachers

Zum Bericht: Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung: „Inklusion muss in allen Bereichen umgesetzt werden“

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9 Kommentare
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Reinhard
9 Jahre zuvor

Das ist alles überhaupt nicht verwunderlich und war auch im voraus zu erwarten.

sofawolf
9 Jahre zuvor

Inklusion sind Wolkenschlösser auf dem Rücken der Kinder. Wieder mal ausgedacht von Leuten, die selbst nicht so arbeiten müssen (und es wahrscheinlich auch selbst nicht könnten). Da werden nicht nur die Lehrer verheizt, sondern auch die Kinder !!!

geli
9 Jahre zuvor

Ich bezweifle den Wahrheitsgehalt dieser Aussage: „Lehrerinnen und Lehrer wollen Inklusion an ihrer Schule, aber sie wollen sie nicht zum Nulltarif.”
Welche Lehrkraft kann es sich denn leisten, eine negative Stellungnahme zur Inklusion abzugeben, ohne dafür von höherer Stelle gerüffelt oder verwarnt zu werden? Offizielle Beschwerde findet deshalb ausschließlich über Kritik an den Rahmenbedingungen statt.
Leider, kann man nur sagen. So darf weiter behauptet werden, sogar die Praxiskenner seien vom Prinzip überzeugt und brauchten nur etwas mehr Unterstützung.
Eine fatale Botschaft an die Öffentlichkeit und Medien.

dixo
9 Jahre zuvor
Antwortet  geli

Stimmt, die Botschaft hat ihre Tücken. Können Lehrer nicht Kritik üben an den Rahmenbedingungen, ohne sich zugleich positiv über die Inklusion zu äußern? Das wäre doch ungefährlich. Vielleicht entspricht ihr Statement ja doch ihrer ehrlichen Meinung.

weirdsister
9 Jahre zuvor

Es ist vieles politisch korrekt, aber nicht sinnvoll. Welches behinderte Kind kann sich in einer Einrichtung mit über 1000 Schülern – und das ist in Sek I oft die Realität – integriert und gut aufgehoben fühlen, ohne qualifiziertes Personal, feste Bezugspersonen? Da werden hochqualifizierte Förderschullehrer und angepasster Lehrprogramme zugunsten billiger Schulbegleiter, die eigentlich nur Studenten mit Nebenjob sind, ausgebootet und behinderte Kinder neben anderen Kindern aufbewahrt.
Eine Freundin von mir, die ihr – noch relativ leicht behindertes Kind unbedingt in die Regelschule schicken will, macht mit dem Kind am Nachmittag und in den Ferien das angepasste pädagogisch wertvolle Lehrprogramm noch extra (Rechnen, schreiben, Lesen etc.), weil inzwischen zwei Schulen inhaltlich bisher komplett versagt haben und die Tochter nur beaufsichtigen. (18 Jahre, jetzt in Klasse 9)
Was lernt das Mädchen aber an der Regelschule? Hauptsächlich, dass sie nicht wie die anderen ist und dass sie nicht auffallen darf, weil sie sonst noch mehr Stress hat. Sie entwickelt Ansprüche, z.B. an eine Berufstätigkeit, die sie im Leben nie wird erleben können. Sie lernt, dass sie viele Dinge nicht so kann wie die anderen und daher ist ihr Selbstbewusstsein sehr beeinträchtigt. Und das wollen wir?
Und das ist dann der Fortschritt, den die UN-Konvention angeblich einfordert? Wieso müssen wir uns mit Ländern auf eine Stufe stellen, die Behinderte in der Vergangenheit aus der Teilnahme am Bildungssystem komplett ausgeschlossen haben? Meine Argumente sind nicht neu, aber ich hab’s bis heute nicht verstanden.

realo
9 Jahre zuvor
Antwortet  weirdsister

Sie haben absolut recht! Auch „ich hab’s bis heute nicht verstanden“, zumal die UN-Konvention gar nicht die Inklusion vorschreibt, die unsere Gesetzesgeber aus dem „Menschenrecht“ gemacht haben.
Sich auf die UN-Konvention bei der Inklusion zu berufen, ist daher grobe Täuschung, die aber von den wenigsten durchschaut wird, weil fast niemand die Fakten nachprüft und jeder den offiziellen Darstellungen glaubt.

Annette
9 Jahre zuvor
Antwortet  weirdsister

Danke weirdsister, Du sprichst mir aus der Lehrer – und Mutter-einer-behinderten-Tochter (bin damals zugunsten ihres Selbstwertgefühles und -vertrauens andere Wege gegangen) – Seele !!!

Mama51
9 Jahre zuvor
Antwortet  weirdsister

Ja, BRAVO 🙂 Endlich mal jemand der den nötigen Mut zur Lücke hat. Ich bin jedoch der Meinung (aus Erfahrung!), dass ES mit körperbehinderten, blinden oder gehörlosen Kindern (leider nur) ganz gut klappt.
Die eigentlichen Probleme liegen in den ADHS – und den sozial – emotional – Gestörten, die unter die Rubrik „Erziehungshilfe“ fallen und deren Eltern gleich mit dazu!
Und dass man mit den „Schulbegleitern“ pro Helfer locker oft noch 1-2 „Schüler“ mehr zu betreuen hat …

schuegli
9 Jahre zuvor

Letztes Schuljahr arbeitete ich im MSD. Dabei hatte ich oft mit Kindern zu tun, die – mittlerweile in der 6. Klasse- aufgrund von Elternwille seit der ersten Klasse mitgeschleift wurden.
Es war so bedrückend, mitansehen zu müssen, wie diese Kinder sich ständig schämten, weil sie ja ständig „versagten“ oder wie die meisten aufgegeben hatten. Die Lehrer – mit einer bunten Mischung aus verhaltensgestörten, Inklusions- und nicht-deutsch-sprechenden Schülern in der Klasse – waren eindeutig überfordert, zumal sie mit diesen Problemen in der Regel meist allein klarkommen mussten. Eine der Schulen, die ich betreute, hatte zwar mehrere Inklusionskinder, aber keinen einzigen Förderlehrer!
(Und selbst mit Förderlehrer, eine so kompetente und umfassende Förderung, wie in der Förderschule wird ein Kind in der Regelschule nie bekommen.)
Dennoch finde ich die Idee der Inklusion gut. Sie funktioniert ganz bestimmt. Aber nur mit ausreichenden Ressourcen an Räumlichkeiten, Materialien und vor allem kompetenten LEHRERN!!!
Mein Eindruck ist leider, dass Inklusion in Deutschland nur betrieben wird, weil man glaubt, damit Geld zu sparen. Und so ruinieren wir damit nicht nur die Gesundheit unserer Lehrer und die Zukunft der betroffenen Kinder, sondern auch unser bisher so gutes Schulsystem. Schade!