Bildschirm statt Bolzplatz: Viele Kinder bewegen sich zu wenig

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BERLIN. Von der Schulbank vor den Bildschirm und von dort ins Bett: Sieht so der Alltag von Kindern in Deutschland aus? Der neue Gesundheitsreport der Deutschen Krankenversicherung (DKV) gibt darauf zumindest Hinweise: Neben einer repräsentativen Befragung von 3000 Erwachsenen zu ihrem Gesundheitsverhalten sollten auch mehr als 300 Eltern etwa darüber Auskunft geben, wie viel Zeit ihre Kinder mit Fernsehen oder Spielkonsole verbringen und wie viel sie sich bewegen.

Bauch eines übergewichtigen zehnjährigen Jungen. Foto: tobyotter / Flickr (CC BY 2.0)
Bauch eines übergewichtigen zehnjährigen Jungen. Foto: tobyotter / Flickr (CC BY 2.0)

Die Ergebnisse zeigen: Der Großteil der 6- bis 12-Jährigen verbringt zu viel Zeit mit diesen Medien – mehr als eine Stunde pro Tag. Das zu begrenzen fällt nach eigenen Angaben knapp 40 Prozent der Eltern schwer. Reizüberflutung ist nur ein damit verknüpftes Problem, sagte der wissenschaftliche Leiter des DKV-Reports, Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS), am Montag in Berlin. Die Kinder würden damit auch viel zu lange stillsitzen. Ein Verhalten, das sie sich offenbar bei Erwachsenen abschauen: Diese sehen die DKV-Experten ebenfalls als «Sitzenbleiber».

Das Dauersitzen war erstmals ein Schwerpunkt des Reports, neben Aspekten wie Stress und Ernährung. Was das Sitzen riskant macht? Es schade dem Biosystem Mensch, das evolutionär für Bewegung konstruiert sei, sagte Professor Gerhard Huber vom Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg der Deutschen Presse-Agentur. Negative Folgen auf zahlreiche Abläufe im Körper seien nachgewiesen: auf Energieverbrauch, Fettverbrennung oder Entzündungshemmung etwa.

Mehrere Studien haben nach Angaben Hubers zudem Zusammenhänge zwischen langem Sitzen und einer erhöhten Sterblichkeit gezeigt. Auch Krebs- und Diabetes-Erkrankungen werden damit in Verbindung gebracht. «Wir wissen allerdings noch nicht genau, warum das so ist», sagte Huber. Die Gefahr steige ab durchschnittlich acht Sitzstunden pro Tag deutlich an. Das dürften viele Kinder überschreiten: Nach DKV-Angaben sitzen sie im Schnitt zusätzlich zum Unterricht vier Stunden lang.

Hinzu kommt ein weiteres Risiko: Nur jedes zweite Kind bewegt sich der Befragung zufolge ausreichend. Sie erfüllten das für die Studie angesetzte Minimum von einer Stunde pro Tag. Ratsam sind laut Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte aber auch drei Stunden und mehr. Gerade bei Kindern in der Stadt ist das offenbar meist Wunschdenken, denn ihnen fehlten die Freiflächen, sagte der Mediziner und Verbandssprecher Ulrich Fegeler.

Routinemäßig beginnen Kinderärzte demnach bei 4- und 5-jährigen Patienten, die Eltern nach den Bewegungsroutinen zu fragen. Denn Bewegung rege das Muskelwachstum sowie den Auf- und Umbau von Knochen an, erläutert Fegeler. Fehlt Bewegung, könne sich das Skelett nicht richtig ausbilden, und Gelenke würden fehlbelastet. Solange Kinder in die Kita oder den Kindergarten gingen, sei meist noch alles in Ordnung: «Der Bruch ist da, wenn die Kinder in die Schule kommen.»

Kinder, die sich wenig bewegen, neigten zu Fettleibigkeit. Damit eröffne sich «ein ganzer Reigen an Organerkrankungen», sagte Fegeler. Es bildeten sich zum Beispiel früher Ablagerungen in den Arterien, zudem hätten sie ein größeres Risiko für Diabetes Typ II und für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Für DKV-Arzt Wolfgang Reuter besteht auch ein Zusammenhang mit der Diagnose ADHS: Gelegentlich würden wohl Kinder fehldiagnostiziert, die ihren Bewegungsdrang nicht ausleben könnten oder die unter Reizüberflutung litten.

Sportvereine, AGs an Schulen, kurz «Freizeittourismus», werde in den Städten wichtiger, glaubt Fegeler. Hier seien Eltern in der Pflicht. Fehlende Bewegung steht für ihn oft in Zusammenhang mit Bildung und sozio-ökonomischem Hintergrund der Familien. Doch das Bewusstsein scheint zumindest bei den DKV-Befragten vorhanden: Ein Großteil der Eltern gab an, die Kinder an die frische Luft zu schicken oder das Fernsehen zu beschränken.

Doch allein die abendliche Runde durch den Park oder der Schulweg zu Fuß können langes Sitzen nicht wettmachen, sagt Sportwissenschaftler Huber: «Trotzdem gilt die Formel: Je mehr Bewegung, desto besser lassen sich Sitzzeiten tolerieren.» Die DKV appellierte an Schulen: Täglicher Schulsport und Bewegungspausen seien eine gute Idee. Angesichts der Werte bei Erwachsenen müssten aber auch Arbeitgeber handeln – und endlich Schluss machen mit dem Stillsitzen. Von Gisela Gross, dpa

Zum Bericht: Zu viel Bildschirm: Kinder werden immer träger – Sportärzte fordern Ganztagsschulen

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