Flüchtlingskinder: Babylon im Klassenraum und Panik bei jedem Knall

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KIEL/ERFURT. Immer mehr Kinder fliehen vor Krieg und Gewalt. Für den Start in ein fremdes Leben müssen sie schnell Deutsch lernen. Viele Schulen sind überlastet.

Die Musik schallt laut aus dem Klassenraum: «Es wird nicht mehr sein wie es war. Ich bin weg. Au revoir.» 15 Jugendliche stehen hinter ihren Tischen und singen mit. Wasim (14) wippt im Takt der Musik, während er singt. Auf dem Textblatt von Bessan (12) stehen handschriftlich einige Bemerkungen über den schwierigen Wörtern. Es sind Übersetzungen ins Arabische. «Damit ich weiß, was ich singe», sagt das Mädchen. Bessan ist ebenso wie Wasim vor dem Krieg in ihrer Heimat Syrien geflohen. Jetzt lernt sie am «Deutsch-als-Zweitsprache»-Zentrum der Max-Tau-Schule in Kiel. Insgesamt 84 solcher Zentren gibt es in Schleswig-Holstein.

Der Bedarf sei förmlich explodiert, sagt Ayfer Taskin, die an der Max-Tau-Schule unterrichtet. Bundesweit wurden 2014 mehr als 173 000 Asylanträge für Kinder und Jugendliche im Alter bis 16 Jahre gestellt, 58 Prozent mehr als 2013, wie aus Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hervorgeht.

Taskin hat in ihrer Klasse Kinder aus vielen Ländern: aus Syrien, Afghanistan, Ghana, Eritrea, Russland, Polen, Armenien und Bulgarien. Eine babylonische Sprachverwirrung bisweilen. Doch das Zentrum achtet gerade auf eine Durchmischung der Klassen, was die Nationalitäten angeht: «Der Vorteil ist dann, dass die gemeinsame Sprache Deutsch ist», sagt Vize-Direktor Dieter Lange.

Zunächst einmal eint die Kinder aus den verschiedensten Weltgegenden aber genau das Gegenteil: «Die meisten Kinder haben überhaupt keine (deutschen) Sprachkenntnisse», sagt der Geschäftsführer der Lehrergewerkschaft GEW in Schleswig-Holstein, Bernd Schauer. Ansonsten sei die Ausgangslage sehr unterschiedlich: «Manche sind in die Schule gegangen, manche nicht. Manche können in ihrer Muttersprache schreiben, einige sind überhaupt nicht alphabetisiert. Das ist eine sehr große Herausforderung für die Lehrer.»

Einfach ist die Verständigung nicht und manchmal helfen nur noch Hand, Fuß und Pantomime. Und dann gibt es noch Wörterbücher in allen möglichen Sprachen und moderne Hilfsmittel. «Alle haben ein Handy und es ist auch in Ordnung, wenn sie es zum Übersetzen benutzen», sagt Taskin. «Am Anfang ist es immer sehr still in den Klassen, aber das ändert sich mit der Zeit.»

Andreas Kollmorgen/Flickr CC BY 2.0)
Immer mehr Flüchtlinge kommen in die deutschen Klassenzimmer. Andreas Kollmorgen/Flickr CC BY 2.0)

Den Kindern Geborgenheit und ein Stück Normalität zu geben, ist auch das tägliche Ziel eines Integrationskurses an der Johannesschule in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt. «Wir wissen, dass dies schwer ist – und vieles können wir nicht ändern», sagt Direktorin Sabine Iffarth. Sie berichtet von einem Kind im Kirchenasyl und Polizisten, die Kinder aus der Schule zur Abschiebung holten. Und von einer Mutter, die jeden Tag mit einem jüngeren Kind neben ihrem Sohn im Unterricht saß, weil er bei jeder Sirene und jedem lauten Knall panische Angst bekam. Auch Schramm betont, dass die Kinder «gruselige Dinge erlebt haben, die man sein ganzes Leben nicht erleben möchte.»

Neben dem Mangel an Lehrern mit der Zusatzqualifikation «Deutsch als Zweitsprache» fehlt es oft auch an psychologischer Betreuung. Die Beschäftigten seien zunehmend überfordert, sagt die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marlis Tepe. «Denn die zur Verfügung gestellten Ressourcen reichen nicht aus und der Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen erfordert zusätzliches Know-how», betont sie. Auch die Johannesschule brauche dringend einen Schulpsychologen, sagt Iffarth.

«In unserer Schule wird Toleranz gelebt», betont Direktorin Iffarth. Junge Muslima etwa tragen im Unterricht Kopftuch und beim Schwimmunterricht einen Ganzkörper-Anzug. Zum Mittag können die Kinder etwa zwischen Huhn- und Schweinefleisch wählen. Beim geplanten Sommerfest «Bunte Vielfalt feiern» gar wollen Flüchtlingskinder aus dem Nahen Osten Schüler des Sprachengymnasiums Schnepfenthal in Arabisch unterrichten. Birgitta von Gyldenfeldt, Antje Lauschner, Nick Kaiser

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