Report: Eine deutsche Lehrerin in Vietnam – „hier möchte ich bleiben“

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HANOI. Junge Vietnamesen lernen Deutsch. Vielleicht werden sie mit ihren Sprachkenntnissen einmal außerhalb ihrer Heimat studieren. Eine Pädagogin aus der deutschen Hauptstadt unterrichtet die Schüler.

Der Moloch Hanoi erwacht. Andrea Sell verlässt das Haus. Es ist kurz nach 6.00 Uhr. Die Lehrerin genießt die Ruhe vor dem Sturm der Mopeds, Laster und Limousinen. Sie grüßt die Müllsammlerin mit dem Eisenkarren, lächelt den Frauen zu, die im Freien ihre Morgengymnastik zelebrieren und nimmt den Duft der frischen Nudelsuppe in den Garküchen auf.

Wie an jedem Werktag zuckelt die Berlinerin eine Stunde lang im Linienbus vom Norden Hanois zur Dong Da Schule in der Stadtmitte. In der typischen Stadtteilschule gibt es seit 2009 Deutsch.

«Gu-ten-Mor-gen-Frau-Leh-re-rin!», rufen die Schüler der Klasse 7, als Sell den Raum betritt. Von draußen dringt Lautsprecherlärm herein, der Ventilator quirlt surrend die klebrig-heiße Luft. «Alles klar, Ngan?», erkundigt sich die 51-Jährige bei der vietnamesischen Referendarin, die für die erste Stunde verantwortlich ist.

Blick auf Hanoi und die Brücke. (Foto: „View of Hanoi with Chuong Duong Bridge“ von Nam-ho Park - Flickr: P1000220. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons - http://commons.wikimedia.org/wiki/File:View_of_Hanoi_with_Chuong_Duong_Bridge.jpg#/media/File:View_of_Hanoi_with_Chuong_Duong_Bridge.jpg
Blick auf Hanoi und die Chuong Duong Brücke. (Foto: CC BY 2.0/Wikimedia Commons)

Die Schüler sind in Gruppen eingeteilt, sie sollen Mini-Reiseführer für deutsche Städte wie Berlin, Leipzig und München zusammenstellen. Ngan steht die Aufregung ins Gesicht geschrieben, viel zu schnell spricht die junge Lehrerin. In der Klasse wird es unruhig.

Die Deutsche legt Ngan beruhigend die Hand auf die Schulter und gibt Tipps. Die erfahrene Pädagogin wechselt von Tisch zu Tisch, liest Texte, erklärt. «Braucht ihr Hilfe?», fragt sie. «Ihr wisst doch, ich komme aus Berlin.» Die zwölf Jahre alte Ngoc Anh zeigt ihr stolz, was sie recherchiert hat. «Jungs, ihr müsst auch mitmachen», rüffelt Sell den zwölfjährigen Dúc und die anderen Jungen, die ihrer Klassenkameradin gern die Arbeit überlassen.

Andrea Sell wurde vom Land Berlin als Deutschlehrerin nach Vietnam entsandt – hier wird seit 2008 von der Zentralstelle für Auslandsschulwesen (ZfA) an staatlichen Schulen Deutsch angeboten. Ein Ziel ist, jungen Vietnamesen den Weg zum Studium in Deutschland zu erleichtern. Landesweit werden derzeit an neun von der ZfA betreuten Schulen rund 1600 Schüler in deutscher Sprache und Kultur unterrichtet.

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Das Abenteuer Vietnam passt zum turbulenten Leben von Sell. 1963 im thüringischen Mühlhausen geboren, wächst Andrea Sell in Erfurt auf. Fernweh hat sie schon damals, mit ihrem Vater zottelt sie im Trabi nach Ungarn. Sie studiert, ist mit 22 Lehrerin für Deutsch und Russisch. Sie findet Zugang zu Erfurter Oppositionellen. 1989 stellt sie einen Ausreiseantrag.

«Es klingt wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte: Am Morgen des 9. November 1989 wurde ich ausgebürgert, am Abend wurde die Grenze geöffnet. Ich blieb natürlich erst einmal in Erfurt, denn ich wollte die Wende mitgestalten», erinnert sich die Ostdeutsche.

Später wird sie Schulungsleiterin eines westdeutschen Unternehmens, betreibt auch mal ein Golfrestaurant und übernimmt immer wieder Filialen von Mode- und Schuhfirmen. In Berlin trifft sie auch ihre Jugendliebe wieder und heiratet.

«Irgendwann hat mich die Arbeit im Einzelhandel aber gelangweilt, die Berufung zur Lehrerin brach sich Bahn.» Sell holt mit 38 Jahren ihr Referendariat nach und übernimmt Stellen mit teils abenteuerlichen Fächerkombinationen. Schließlich gibt sie im Wedding Deutsch, Mathematik und Kunst. «Inzwischen kann ich alles unterrichten», meint sie heiter. Diese Flexibilität sei in Vietnam Gold wert.

«Trotzdem waren Hanoi und ich keine Liebe auf den ersten Blick», erzählt die Pädagogin von ihrer Ankunft im Sommer 2014. «Eine unglaubliche Hitzewolke lag über der Stadt und der Verkehr war so verrückt, dass ich mich nicht über die Straße traute.» Sie habe sich nach dem Prenzlauer Berg und ihren Berliner Schülern gesehnt.

«Hier in Hanoi verstanden mich die Schüler nicht, ich konnte ja nicht einmal ihre Namen richtig aussprechen.» Inzwischen liebt die Lehrerin den Unterricht in ihren 7., 8. und 9. Klassen sowie die Arbeit als Mentorin für vietnamesische Kollegen. Auch im Trubel von Hanoi bewegt sich die Berlinerin längst gelassen.

In der großen Pause nimmt Sell gegenüber im Café «Nang Vang» einen extra starken vietnamesischen Kaffee. «Als Jugendliche war ich Leichtathletin – Mittel- und Langstrecke -, im Beruf dagegen habe ich bisher eher die Kurzstrecke bevorzugt – alle paar Jahre etwas Neues», sagt sie versonnen. «Aber hier möchte ich gern lange bleiben.» Thomas Kunze/dpa

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