So viele Studenten wie noch nie: Deutschland im „Akademisierungswahn“?

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BERLIN. Immer weniger Lehrlinge, immer mehr Studenten – gerät das deutsche Bildungssystem in Schieflage? Die provokante These des Philosophen Nida-Rümelin vom «Akademisierungswahn» hat viele Gegner. Doch es geht um eine wichtige Frage: Wo kommen die Fachkräfte der Zukunft her?

Immer mehr Studenten gibt es in Deutschland: Fassade der Berliner Humboldt-Universität. Foto: Rolf Handke / pixelio.de
Immer mehr Studenten gibt es in Deutschland: Fassade der Berliner Humboldt-Universität. Foto: Rolf Handke / pixelio.de

Hunderttausende Schüler büffeln derzeit für ihr Abi. Viele von ihnen sitzen ab Herbst in Hörsälen deutscher Hochschulen. Weit weniger aber werden eine betriebliche Lehre beginnen – darauf lassen auch die Trends des Berufsbildungsberichts 2015 schließen. Er weist einen Minusrekord bei den Ausbildungsverträgen aus. Für den Fachkräftemarkt kein gutes Zeichen, warnt die Wirtschaft, die für ganz viele Lehrstellen gern Bewerber mit Abitur hätte.

Von einem «Akademisierungswahn» wollen aber die wenigsten reden – trotz der Rekord-Studentenzahl von 2,7 Millionen. Im Gegenteil: Viele Experten – von Wissenschaftlern über Gewerkschafter bis zu den Fachpolitikern – halten eine solche Zuspitzung für falsch. Sie warnen vor einer künstlichen Verknappung von Studienplätzen und vor einer «Systemkonkurrenz» zwischen Hochschul- und Berufsbildung. Und sie verweisen auf eine wachsende Durchlässigkeit beider Bereiche.

Die provokante These stammt vom Philosophen Julian Nida-Rümelin, dem zufolge jetzt eine langjährige «Propaganda» Wirkung zeigt: Das Abitur werde als Regelabschluss dargestellt, das Studium als Normalfall. «Die deutsche Bildungspolitik ist auf dem Holzweg: Die berufliche Bildung wird vernachlässigt.» Mit kernigen Sätzen wie diesen eröffnete der einstige SPD-Kulturstaatsminister im Sommer 2014 eine bald immer hitzigere Debatte. «Die Welt entdeckt das deutsche System der beruflichen Bildung und Deutschland wrackt es ab?», schob er im Fachblatt «Forschung und Lehre» nach.

Nida-Rümelins dringliche Warnung: Laut Studien ist bis 2030 in Deutschland mit einer Lücke von über vier Millionen nichtakademischen Fachkräften zu rechnen. Wo sollen die herkommen, wenn bald jeder studiert und sich «keiner mehr die Finger schmutzig machen will»?

Besonders aufs Korn nahm Nida-Rümelin (60) die Bildungsexperten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – weil sie Deutschland stets eine niedrige Akademikerquote vorgehalten hätten. Zuletzt besaßen hierzulande 28 Prozent der 25- bis 64-Jährigen einen Studienabschluss – im OECD-Schnitt 33 Prozent. Der Trend zu immer mehr Hochschulbildung gering schätze «das Handwerkliche, das Technische, aber auch das Soziale, das Ethische, das Ästhetische», sagte Nida-Rümelin, selbst Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, kürzlich in einem Streitgespräch mit Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU).

Der «Akademisierungswahn» produziere «zu viele Bildungsverlierer und Gescheiterte», so sein Credo angesichts hoher Studienabbrecherquoten. 2008 hätten Bund und Länder formuliert, 40 Prozent pro Jahrgang sollten ein Studium aufnehmen. Nun seien es 57 Prozent – «um fast 50 Prozent wurde das Ziel verfehlt», also überschritten. Entgegen bestimmter Verdienst-Theorien verweist Nida-Rümelin gern auf «die Tochter einer magistrierten Germanistin, die als Goldschmiedin mit Meisterprüfung das Dreifache ihrer Mutter verdient» – die Frau sei also auch ohne Studium keine «Bildungs-Absteigerin».

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Während sich Ende 2014 einige Wirtschaftsverbände mit dem Aufruf «Wir brauchen alle!» gegen die These von der «Überakademisierung» wandten, sieht der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) den Philosophen-Impuls positiver: «Herr Nida-Rümelin hat das Verdienst, eine Debatte mit angestoßen zu haben. Wir haben – auch durch Zielvorgaben der OECD zur Höherqualifizierung – ein Klima geschaffen, dass Eltern fast durchweg ihren Kindern ein Studium empfehlen», sagt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks.

Die Bildungsministerin findet die Lage von Nida-Rümelin «in vielen Punkten» korrekt beschrieben. Wanka widerspricht aber vehement seiner Analyse, wie es dazu kam – und was die Politik zu tun habe. Und sie relativiert die 57-Prozent-Quote der Studienanfänger – rechne man die Ausländer heraus, komme man auf 46 Prozent. «Wir brauchen beides – akademische Ausbildung und duale Ausbildung. Und eine vernünftige Balance», betont sie.

Auch Wanka macht der Mangel an Fachkräften in Handwerk und Industrie Sorge. Deshalb setze die Regierung einen Schwerpunkt bei der Stärkung der betrieblichen (dualen) Ausbildung, etwa mit ihrem 1,3 Milliarden Euro teuren Präventivprogramm für bessere Berufsorientierung an Schulen. Speziell an Gymnasien, bei den oft einseitig aufs Studium ausgerichteten Jugendlichen, soll dafür geworben werden, dass eine Ausbildung gute Chancen bietet und keine Sackgasse ist. Auch sollen Studienabbrecher vermehrt in sinnvolle neue Bahnen gelenkt werden.

Tatsächlich lässt sich Kritik an mangelnder Durchlässigkeit zwischen dualer Ausbildung und Studium heute leichter kontern als vor zehn Jahren. Nach aktuellen Zahlen studierten 2013 knapp 46 000 Männer und Frauen ohne Abitur oder Fachhochschulreife, also beispielsweise Handwerksmeister – fast dreimal so viel wie 2007.

Im Streit über die weiterhin niedrige deutsche Akademikerquote verweist Wanka darauf, dass insgesamt geringere Arbeitslosigkeit und bessere Verdienstchancen – gegen alle Goldschmied-Beispiele – immer noch bei Menschen mit Hochschulstudium zu finden seien. «Die jungen Leute sehen sowas, und das beeinflusst ihre Entscheidung», hält die Mathematik-Professorin dem Münchner Philosophie-Kollegen entgegen.

Ein Umschwenken Richtung duale Ausbildung lasse sich nicht verordnen, meint Wanka. Sie führt gern den Parteifreund Volker Kauder ins Feld. Der CDU-Mann habe in seiner Unionsfraktion angesichts laut geäußerter Sympathien für echte Lehrberufe in die Runde gefragt: «Welches von Euren Kindern studiert denn nicht?». Da sei es sehr still geworden. Von Werner Herpell, dpa

Zum Bericht: Akademisierungswahn? OECD macht sich mit Statistiken lächerlich

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xxx
8 Jahre zuvor

was istveigentlich daran falsch, dass gymnasien einseitig auf ein hochschulstudium hinarbeiten ?!? aus meiner sicht überhaupt nichts, vorausgesetzt due gymnasialquote wird entgegen dem politischen willen von 57% wieder auf studierfähige 40% der schülerschaft heruntergefahren.

sofawolf
8 Jahre zuvor

Warum glaubt man eigentlich, dass sich der Erfolg von Bildung darin zeigt, dass so viele Kinder wie möglich nach der Schule studieren? Was sollen solche Vorgaben oder Ziele, man wolle, dass 70% der Kinder studieren. Ich meine, der Erfolg von Bildung zeigt sich darin, dass „aus jedem Kind das Beste herausgeholt wird“ und das ist bei jedem etwas anderes.

Was soll das Streben nach möglichst hohen Studentenzahlen? Es entwertet automatisch alle Arbeiten und Berufe, für die man nicht studieren muss. Das ist falsch und das ist schlecht.

Von Luft und Wasser (also ohne Bauern) könnte niemand von uns leben, so klug er auch sein mag.

xxx
8 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

meine rede, allerdings nicht die der Politik bzw. der sie lenkenden lobbygruppen.

jenny
8 Jahre zuvor

in DE fehlen schon seit Jahrzehnten Ausbildungsstellen, das solllte man nicht vergessen. Nur weil den Betrieben Hauptschüler nicht mehr gut genug sind, kann man nicht Personen mit langer Schulbildung zwangsverpflichten.

ich sehe im dualen System durchaus Defizite und empfehle mal dieses Buch zu lesen:

http://www.ksp.kit.edu/9783866444386

das System muss reformiert werden, weil:

ein Unterangebot an Ausbildungsstellen besteht
weil tw. für Arbeitslose und AN etc. unzureichende Umschulung und Fortbildung existiert
weil es nicht den Fachkräftemangel, der tw. existiert beheben kann, hier gibt es strukturelle Probleme, wie eben das Unterangebot in vielen Gegenden oder eben fehlende Vielfalt
weil laut BVerfG mehr Ausbildungsstellen vorhanden sein müssten, wenn man die Altbewerber berücksichtigt, ist das nicht erfüllt
weil jeder 2. Azubi später nicht im erlernten Beruf arbeitet und man dabei aufpassen muss, dass sie nicht nach unten gereicht werden Richtung Niedriglohnsektor z.B.

außerdem muss man berücksichtigen, dass in den letzten Jahren eine Verschiebung stattfand im Stellenmarkt – duale Ausbildung wurde weniger nachgefragt — auf Seite 4 gut zu erkennen

http://doku.iab.de/grauepap/2012/beschaeftigungsentwicklung_Hamburg.pdf

hinzu kommt, dass man für besser Vorgebildete hochwertigere Bildungsangebote schaffen muss, als die duale Ausbildung:

Der ursprünglich für Schüler mit mittlerem Bildungsabschluss (Mittlere Reife, Fachoberschulreife, mittlerer Schulabschluss (MSA)) konzipierte Ausbildungsgang wird in zunehmendem Maße von Abiturienten, Studienabbrechern und sogar von Hochschulabsolventen belegt. Dies führt in der Berufsschulausbildung häufig zu auffälligen Leistungsunterschieden zwischen den einzelnen Schülern. Bei den Höherqualifizierten stellt sich aufgrund der Ausbildungsinhalte, die sich der Konzeption entsprechend auf einem mittleren Niveau bewegen, teilweise das Gefühl einer Unterforderung ein, verbunden mit der Frustration über ein vergleichbar geringes Gehalt

die duale Ausbildung baut eben immer auf Hauptschule auf, man kann nunmal die leute nicht in die Hauptschule zwingen, wenn sie sich da langweilen. Andere Länder haben das System stärker nach Vorbildungsniveau strukturiert, z.B. NL und UK

jenny
8 Jahre zuvor

und zu den immer genannten Passungsproblemen:

diese Passungsprobleme treten doch vor allem bei vollkommen unattraktiven Berufsfeldern auf — z.B. wo Niedriglöhne existieren oder wo man generell hinterfragen kann, warum man daraus eigenständige Ausbildungen macht.

das sind z.B. Berufe wie Gebäudereiniger, Gastronomie und vergleichbare Niedriglohnbereiche, wo mittlerweile z.T. eher Studentenjobs draus werden.

wer diese Passungsprobleme beheben will, könnte bessere Löhne bieten und Azubis besser behandeln, statt auszunutzen. Zum Teil sind wir hier auch in Berufsbereichen, wo eben Aushilfenarbeitsmärkte stark verbreitet sind, was heißt, dass selbst mit Berufsausbildung adäquate Beschäftigung nicht garantiert ist