„Brandgefährliche Ideen“ – Stoch gerät durch seinen Reformplan fürs Gymnasium in Bedrängnis

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STUTTGART. Mit Bildungspolitik lassen sich keine Wahlen gewinnen – aber verlieren. Diese Politiker-Weisheit ist auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann nicht fremd. Deshalb mischt er sich massiv in die Debatte ums Gymnasium ein. Die hat sein Kultusminister Stoch angestoßen. Und sich sowie der grün-roten Koalition damit offenbar keinen Gefallen getan. 

Unter Druck: Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch. Foto: Sven Teschke / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)
Unter Druck: Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch. Foto: Sven Teschke / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Veränderungen am Gymnasium beobachtet die Bevölkerung mit Argusaugen. Das weiß auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der konstatiert: «Das deutsche Bildungsbürgertum liebt nun mal sein Gymnasium.» Er fügt vor der Presse an: «Und wir teilen diese Liebe.» Anlass für diese Liebeserklärung ist ein jüngst bekanntgewordenes Papier zur Zukunft des Gymnasiums in Baden-Württemberg, das gravierende Neuerungen in der Oberstufe und im Abitur vorsieht. Ein Arbeitskreis im Kultusministerium hat die Vorschläge erstellt. Sie sickerten durch und wurden prompt von der Opposition als «Generalangriff» auf die bewährte Schulart gewertet.

Doch das Festhalten am klassischen Gymnasium ist auch für Grünen-Politiker unverzichtbar. Denn die Wählerklientel der Öko-Partei setzt sich größtenteils aus Akademikern zusammen, die sich mit dieser Schulart identifizieren. Wie sensibel das Thema für die Politik ist, zeigte auch der Fall Hamburg. Dort trat Bürgermeister Ole von Beust (CDU) 2010 nach einem erfolgreichen Volksentscheid gegen eine geplante Verkürzung der Gymnasialzeit zurück – der Anfang vom Ende der schwarz-grünen Koalition in der Hansestadt.

Auf solch vermintem Gelände ist nun Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch (SPD) weniger als ein Jahr vor der Landtagswahl gestrauchelt. Noch bevor er zu den einzelnen Punkten des Papiers Stellung beziehen konnte, zerriss es nicht nur die Opposition in der Luft. Auch die Regierungsfraktionen kassierten es umgehend ein – zum Unmut von Kretschmann. Dieser stellte sich schützend vor seinen Kultusminister und ließ SPD und Grüne im Landtag wissen: «So geht’s wirklich nicht.» Er wünsche sich mehr Gelassenheit im Umgang mit bildungspolitischen Vorschlägen. Die Frage, warum das so schwierig ist, beantwortete er gleich selbst: Das Thema sei «angstbesetzt».

Aus Sicht der Opposition befindet sich Stoch in «hochpeinlicher Lage», weil ihm sogar die eigenen Leute einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten. «Wären seine in die Zukunft gerichteten Überlegungen für die Qualität des Gymnasiums nicht so brandgefährlich, würden sie nicht auch vom eigenen Regierungslager so eindeutig abgelehnt», folgert CDU-Fraktionschef und Kretschmanns Herausforderer bei der Landtagswahl Guido Wolf.

CDU-Bildungsexperte Georg Wacker kritisiert vor allem, dass Stoch nicht «proaktiv» mit dem ihm seit Frühsommer 2014 vorliegenden Papier umging und es öffentlich zur Diskussion stellte. «Er hätte sagen müssen, was er damit vorhat.» Es sei nicht das erste Mal, dass der Jurist ein «Steuerungsproblem» habe. So habe er auch zu spät auf die Kritik am neuen Bildungsplan reagiert, der Ziele für den Unterricht festschreibt. Auch die FDP-Fraktion sieht Stoch in der Pflicht, schleunigst Stellung zu den Einzelforderungen zu beziehen.

Stoch hingegen versichert vor der Presse, er habe weder Schrammen noch blaue Flecken. Denkverbote dürfe es auch beim Gymnasium nicht geben, zumal jüngst eine Studie erhöhte Stressbelastung der Absolventen des achtjährigen Gymnasiums bescheinigt hatte. Das Gymnasium sei weit davon entfernt, «ideal» oder gar «paradiesisch» zu sein. Die Vorschläge der noch von seiner Amtsvorgängerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) eingesetzten Arbeitsgruppe würden zunächst intern diskutiert, dann mit dem Finanzressort abgestimmt und später dem Kabinett vorgelegt. «Soweit sind wir aber noch nicht.»

Schützenhilfe erhielt Stoch von Gymnasiallehrer Kretschmann: Das Gymnasium als beliebteste weiterführende Schulart müsse pädagogisch modernisiert werden. Es dürfe heute eben nicht mehr so zugehen wie im ungeliebten Griechisch-Unterricht seiner Jugendzeit. Damals habe er stur einen Satz nach dem anderen übersetzen müssen.

Der vom Kultusministerium eingesetzte Arbeitskreis hat unter anderem folgendes vorgeschlagen:

  • Coachingsystem: Ein Lernentwicklungsberater soll die Schüler von Klasse 5 bis 12 bei der Definition ihrer Lernziele und -schritte unterstützen.
  • Oberstufe: Die Klasse 10 soll der Oberstufe als OS1 zugeschlagen werden, um den Übergang von Mittel- zu Oberstufe reibungsloser zu gestalten. Das vierte vierstündige Kernfach muss nicht mehr zwingend eine Naturwissenschaft oder eine weitere Fremdsprache sein. Kernkompetenzfächer bleiben Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache. Der Seminarkurs in der OS2 (Klasse 11) wird für alle Schüler verpflichtend, um sie auf die akademischen Arbeitstechniken vorzubreiten. Dafür wird die Präsentationsprüfung, ein mediengestützter selbst recherchierter Vortrag des Schülers, abgeschafft.
  • Fremdsprachen: Real- und Gemeinschaftsschüler ohne zweite Fremdsprache nehmen in der OS1 eine zweite Fremdsprache auf und führen sie bis zum Abitur. Genuine Gymnasiasten mit zweiter Fremdsprache können diese nach Klasse neun abwählen und in OS1 eine neue beginnen und diese bis zum Abitur belegen.
  • Förderung von Wechslern: Für Schüler von Gemeinschafts- und Realschulen wird als individuelles Lernangebot ein «Fundamentum» angeboten. Ziel: Vertiefung der Inhalte in Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften.
  • Abiturprüfung: Auf ein viertes schriftliches Prüfungsfach wird verzichtet. Statt einer mündlichen Prüfung gibt es künftig zwei. dpa

Zum Bericht: Jetzt doch – Kretschmann will das Gymnasium umbauen, denn: „Wir lieben es“

 

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