Forschungsbericht: Inklusion funktioniert – GEW zweifelt an Übertragbarkeit

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SCHWERIN. Eine Forschungsgruppe der Universität Rostock will mit einem Modellprojekt auf Rügen nachgewiesen haben, dass Schüler mit und ohne Förderbedarf gemeinsam erfolgreich unterrichtet werden können – bei angeblich ähnlichem Mittel- und Personaleinsatz wie bisher. Die rot-schwarze Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern zeigt sich erleichtert (und wohl nicht nur sie). Die GEW allerdings bezweifelt die Übertragbarkeit der Ergebnisse.

Inklusion in der Grundschule funktioniert - zumindest im Rügener Modell. Foto: Philip Beyer / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Inklusion in der Grundschule funktioniert – zumindest im Rügener Modell. Foto: Philip Beyer / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Schüler mit und ohne besonderen Förderbedarf können erfolgreich gemeinsam unterrichtet werden. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls der Forschungsbericht zum Rügener Inklusionsmodell, der nun in Schwerin vorgestellt wurde. Ein Forschungsteam um Professor Bodo Hartke von der Universität Rostock begleitete vier Jahre lang – bis Juli 2014 – Grundschulklassen auf der Insel Rügen, die nach einem Inklusionskonzept unterrichtet wurden, und verglich die Leistungen der rund 440 Schüler mit denen einer Kontrollgruppe in Stralsund. Wichtigstes Ergebnis: Kinder mit einem hohen Förderbedarf profitieren von der Inklusion, ohne dass es negative Effekte für die anderen Schüler gibt.

Bildungsminister Mathias Brodkorb (SPD) sprach von einem „positiven Gesamtbild“. Gleichzeitig seien die Ergebnisse ein Beleg dafür, dass „wir den Prozess der Inklusion behutsam und sorgsam vorbereiten müssen, um dabei Schüler, Lehrer und Eltern mitzunehmen“. Studienleiter Hartke betonte den Wert der Arbeit für die Inklusionsdebatte in ganz Deutschland: „Bemerkenswert an den Befunden ist, dass die gemeinsame Beschulung auf Rügen flächendeckend realisiert wurde“, erklärte er. „Bei deutlichen Förderbedarfen aufgrund von Beeinträchtigungen in den Bereichen Lernen, emotional-soziale Entwicklung oder Sprache konnte im Einzelfall nicht auf eine Beschulung in einer entsprechenden Förderschule einer Nachbarregion ausgewichen werden. Der gemeinsame Unterricht wurde für so gut wie alle von besonderem Förderbedarf betroffenen Kinder realisiert und nicht nur für Kinder von Eltern, die einen besonderen Wert auf die inklusive Beschulung ihres Kindes legen. Insofern bieten die Rügener Daten Anhaltspunkte um abzuschätzen, was geschieht, wenn Inklusion zum Regelfall wird“, sagte Hartke.

Ergebnisse im Einzelnen:

  • In der Gruppe der Kinder mit einem hohen Förderbedarf sind positive Effekte im Bereich Lernen, tendenziell positive Effekte im Bereich emotional-soziale Entwicklung und im Bereich Sprache gleichwertige Fördererfolge wie in bisherigen Beschulungsformen zu verzeichnen, was zum Beispiel beinhaltet, dass lernschwache Kinder auf Rügen bereits nach drei Schuljahren die Schulleistungen erreichen, die vergleichbare Kinder in anderen Regionen erst nach vier Jahren erzielen.
  • Die Häufigkeit von sonderpädagogischem Förderbedarf ist auf Rügen deutlich geringer als in der Kontrollgruppe (3,7 Prozent Rügen versus 11,4 Prozent Kontrollgruppe), das heißt, das inklusive Rügener Beschulungskonzept beugt sonderpädagogischem Förderbedarf in den Förderschwerpunkten Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache vor.
  • Negative Effekte von Inklusion auf die Schulleistungen und Entwicklungsstände der Gruppe der Mitschüler sind auszuschließen, wogegen positive Effekte im Bereich emotional-soziale Entwicklung für die Gesamtgruppe aller Schülerinnen und Schüler vorliegen (die Gruppe der Schülerinnen und Schüler auf Rügen zeigt besonders niedrige Werte im Bereich „Verhaltensauffälligkeit“, aber hohe Werte im Bereich „Prosoziales Verhalten“).

Schulleiterin Silke Wolff sagte, an der Grundschule Mönchgut auf Rügen hätten die Lehrer schon immer versucht, Kindern die langen Wege zur Förderschule und das Herausreißen aus dem sozialen Umfeld zu ersparen. Es gehe in der Regel um ein oder zwei Kinder pro Klasse, die Schwierigkeiten hätten. Mit dem jetzigen Know-how seien die Lehrer in der Lage, diese Kinder mit zu unterrichten.

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Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat allerdings andere Erfahrungen gemacht. Rügener Kollegen hätten sich an die GEW gewandt, weil sie Sorge um die Kinder haben, die aufgrund der ständigen Tests und Normung Angsterscheinungen haben, sagte eine Sprecherin. Sie selbst fühlten sich überlastet und fürchteten um ihre Gesundheit. «Die Akzeptanz für inklusive Beschulung geht fünf Jahre nach ihrer Einführung bei Lehrern sowie Eltern und Schülern gegen Null», sagte die GEW-Vorsitzende Annett Lindner. Eine Ursache sieht sie darin, dass seit dem Schuljahr 2010/11 an allen Grundschulen und nun auch weiterführenden Schulen im Land inklusiv unterrichtet wird. Die Inklusion sei überstürzt eingeführt worden.

Die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag, Simone Oldenburg, sagte, die Auswertung des Modellprojektes belege, dass inklusiver Unterricht an Grundschulen mit zusätzlichen Unterrichtsstunden und einer engen Begleitung durch die Universität Rostock möglich ist. Alle betroffenen Lehrkräfte seien fortgebildet worden. «Dies ist im übrigen Land bisher nicht der Fall», sagte sie.

Auch unter den Pädagogen auf Rügen gibt es laut GEW weiterhin Skepsis: 50 Prozent der Grundschullehrer haben noch Zweifel, ob bedürftige Schüler so die beste Förderung erhielten. 29 Prozent von ihnen würden förderbedürftige Kinder lieber nicht unterrichten, wenn sie es sich aussuchen dürften. News4teachers / mit Material der dpa

Hier geht es zu der Studie.

Zum Bericht: „Keine Lust auf Schüler mit Behinderung“ – Inklusionsbefürworter gehen auf Lehrer los

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13 Kommentare
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Ursula Prasuhn
8 Jahre zuvor

„Nachtigall ick hör dir trapsen“, kann ich da nur sagen. Allmählich wird immer deutlicher, wohin die Reise geht. Dieser „wissenschaftliche“ Nachweis einer Forschungsgruppe, dem vermutlich weitere folgen werden, macht klar, dass „Schüler mit und ohne Förderbedarf gemeinsam erfolgreich unterrichtet werden können – bei angeblich ähnlichem Mittel- und Personaleinsatz wie bisher“.
Hoffentlich wissen alle Lehrer und Lehrerkollegien diese Botschaft richtig zu deuten, die sich vertrauensselig für die Inklusion ausgesprochen haben – allerdings mit dem Zusatz, dass sie dafür erheblich mehr Mittel und Personal brauchen.
Ihre grundsätzliche Zustimmung zur Inklusion könnte durch weitere „beweiskräftige“ Modellversuche zur Falle werden. Bestehen bleibt dann die gewohnte Botschaft: „Lehrer sind für die Inklusion!“, während der Zusatz ganz anders lautet: „Inklusion erfordert keinen höheren Mittel- und Personaleinsatz!“.
Dass die GEW Bedenken zur Übertragbarkeit der Ergebnisse anmeldet, gehört zum Glaubwürdigkeitsritual. Immerhin ist sie Gewerkschaft und muss zeigen, dass die Interessen ihrer Klientel nicht völlig auf der Strecke bleiben. Außerdem verspricht mehr Personal durch Inklusion eine Zunahme ihrer Mitglieder.

Milch der frommen Denkungsart
8 Jahre zuvor
Antwortet  Ursula Prasuhn

Diese Herrschaften machen sich also nun nicht einmal mehr die Mühe, ihre Volksverdummungsbemühungen wie bisher zu verschleiern: darin besteht die eigent-liche Unverfrorenheit der Auftraggeber !

ysnp
8 Jahre zuvor

Grundschulen in Rügen: Ich habe mir nur einmal die Hompage der o.g. Schule angeschaut. Da werden wohl wieder Äpfel mit Birnen verglichen. Sie ist einzügig und die Klassenzahlen sind dort ja paradiesich – Klassen teilweise eindeutig unter 20 Schülern, ich habe öfter um die 16, 17 Schüler auf den Bildern gezählt. Da hat man eher das Interesse, dass die Schule erhalten bleibt. Mit so wenigen Schülern gelingt Inklusion vielleicht. Ich selbst habe Grundschulklassen zwischen 25 und 28 Schülern. Ein himmelweiter Unterschied!

alexander
8 Jahre zuvor

Das Ergebnis dieser sogenannten „Studie“ aus MeckPomm: „… dass Schüler mit und ohne Förderbedarf gemeinsam erfolgreich unterrichtet werden können bei ähnlichem Mittel- und Personaleinsatz wie bisher…“ bedeutet im Klartext: Liebe Kolleginnen und Kollegen, freut Euch schon mal: Demnächst wird von Eurem Kultusministerium flächendeckend Inklusion zum Nulltarif verordnet werden, denn auf der schönen Insel Rügen soll’s ja angeblich schon mal funktioniert haben.
Man fühlt sich dabei an den Satz der früheren hessischen Kultusministerin Karin Wolff erinnert, dass einer ähnlichen sogenannten „Studie“ zufolge der Unterrichtserfolg nicht von der Klassengröße abhängt, dass es also wurscht ist, ob ich zehn oder fünfzig Schüler vor mir sitzen habe.

Ursula Prasuhn
8 Jahre zuvor

@Milch der frommen Denkungsart
Richtig! Hinzufügen möchte ich noch, dass Unverfrorenheit in der Regel erst dann nicht mehr verschleiert wird, wenn der Unverfrorene seines Sieges gewiss ist.
Schade, dass Schulen und Lehrer die Inklusion in der Öffentlichkeit immer wieder gutheißen und als erstrebenswertes Ziel darstellen. Dass sie dafür mehr Mittel und Hilfskräfte fordern, wird – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie wahrgenommen.
Ich weiß nicht, wie viele Lehrer wirklich hinter der Inklusion stehen, vermute allerdings, dass es sehr wenige sind. Viele fühlen sich wahrscheinlich moralisch oder durch Vorgesetzte zur Zustimmung erpresst und verstecken ihre Bedenken hinter äußeren Bedingungen wie mangelnder Personalausstattung.
So jedenfalls ist mein Eindruck.
Dass dies ein Riesenfehler ist, stellt sich nun heraus. Die „Herrschaften“ brauchen nur noch den Beweis zu erbringen, dass die Lehrer mit der Inklusion falsche Vorstellungen hinsichtlich der Voraussetzungen verbinden.
Wenn meine Vermutung stimmt und eine große Mehrheit der Lehrer die Inklusion nicht befürwortet, dann gilt es, endlich Farbe zu bekennen und sich nicht mehr hinter Ausstattungsmängeln zu verschanzen, die von Auftragsstudien als falsche Vorstellungen oder Vorurteile abgetan werden. Hier sind die „Herrschaften“ mit ihren taktischen Möglichkeiten haushoch überlegen.
Ehrliche Meinung und ungeschminkte Erfahrungsberichte sind m.E. die einzige Möglichkeit, die Inklusion zu bremsen und den Rest der Förderschulen zu erhalten.

m. n.
8 Jahre zuvor
Antwortet  Ursula Prasuhn

„Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist Ehrlichkeit“ (Albert Camus)

dickebank
8 Jahre zuvor

BaWü tut sich schwer mit der Inklusion, die vorangegangenen Versuche des gemeonsamen Unterrichtes von Schwaben und Badensern sind ja schon gescheitert.

mehrnachdenken
8 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

Haha! „dickebank“ wird noch ein richtiger „Scherzkeks“, wobei ich mal stillschweigend unterstelle, dass Sie ein männliches Wesen sind, lach.

realo
8 Jahre zuvor
Antwortet  mehrnachdenken

Hm, da würde ich nicht unbedingt zustimmen, denn unter „Scherzkeks“ stelle ich mir eine freundliche und harmlose Natur vor.

mehrnachdenken
8 Jahre zuvor
Antwortet  realo

Naja, gewalttätig im eigentlichen Sinn ist „dickebank ja noch nicht geworden.
Vielleicht geht er aber auch nur auf Schmusekurs, weil es alleine mit der Zeit auch einsam werden kann, grins.

dickebank
8 Jahre zuvor
Antwortet  mehrnachdenken

Wer weiß, wo der Begriff „dickebank“ herkommt, der weiß auch, dass das kein grund ist auf Schmusekurs zu gehen.

Und was das Niveau angeht, da habe ich schon viel tiefer malocht.

dickebank
8 Jahre zuvor
Antwortet  realo

Freundlich und harmlos ist nett – und nett ist die kleine Schwester von Schei…

Dina
8 Jahre zuvor

Ich sehe das Forschungsergebnis enorm kritisch. Die Schule ist eine winzige Schule, die Menschen, die dort wohnen, kennen sich wahrscheinlich weitgehend und die Schule hatte lange Vorlaufzeiten für die Inklusion.
Allein die Tatsache, dass man sich kennt oder jemanden kennt, der jemanden kennt, der den zukünftigen Schüler kennt, hilft bei Inklusion schon enorm. Wenn ich ein halbes Jahr zuvor bereits weiß, dass ein Kind kommt, dass die und die Schwierigkeiten hat, dann kann ich mich darauf vorbereiten. Wenn dann die ganze Schule insgesamt sich bereits Jahre zuvor darauf vorbereitet, kann tatsächlich auf dieses Kind eingegangen werden und man kann anders mit den Eltern arbeiten. Man versteht vielleicht die irrationale Angst vor roten Wänden oder die Wutanfälle beim hochziehen der Rolläden, weil man sich darauf einstellen konnte. Und dann hat man ja nur eine handvoll weiterer Kinder, die man beschäftigten muss während man sich um den Wutanfall kümmert. Maximal zwei Inklusionskinder sind in einer 20er Klasse. Paradiesisch!
Jetzt übertragen wir das mal auf eine Großstadt. Selbst wenn da ein behindertes Kind direkt neben der Schule wohnt, weiß davon wahrscheinlich niemand bis zu dem Zeitpunkt wo die Eltern das Kind an der Schule anmelden und auch dann wird man nur genau das wissen, was die Eltern einem mitteilen, nicht mehr. Wenn das Kind dann einen Wutanfall hat, ist man ratlos und muss die übrigen 29 Kinder irgendwie beaufsichtigen, von denen noch vier bis fünf weitere Kinder Inklusionsbedarf haben. Kaum weiß man annähernd genug, um auf das Kind einzugehen, wechselt es die Schule oder die Lehrkraft wechselt. Das kommt in Großstädten auch häufiger vor.
Und das Problem, was ich sehe ist nicht das eine Kind, dass aufgrund einer Trisomie21 schwierigkeiten beim Lernen hat oder das Kind im Rollstuhl, dem man bei der Eingangsstufe helfen muss, sondern die fünf Kinder, die wegen der Scheidung der Eltern, Flüchtlingsvergangenheit und Krach zu Hause Prügeleien anfangen, während zwei autistische Kinder schreiend im Kreis laufen. Das sind in den Großstädten die 7 Kinder, die auf die paradisische Zahl von 20 Kindern in der Klasse in Rügen dazukommen. In 20er Klassen mit zwei Inklusionskindern mache ich Inklusion mit, sofern man in schwierigen Fällen Hilfe bekommt (Die Schulsozialarbeiter und Schulpsychologenstellen wurden weitgehend ersatzlos gestrichen. AO-SF-Verfahren sind in aller Regel überflüssig. Inklusionshelfer gibt es nur bei diagnostiziertem „schwerem“ Autismus. Das ist eher das Gegenteil von Hilfestellung). Schwierige Fälle sind Scheidungskinder, Waisen, Pflegekinder, Flüchtlinge, Autisten, behinderte Kinder mit pflegerischem Aufwand, neu-diagnostizierte chronisch erkrankte Kinder und häufig auch die ADHS-Kinder für die zusätzliche Resourcen geschaffen werden müssen. Das sind jetzt die Kinder, die in meiner 30er Klasse sitzen. Ich habe insgesamt FÜNF Kinder, die kein Paket mit sich herumtragen. 25 Kinder haben heftige Krisen miterlebt und werden damit allein gelassen. Psychologische Hilfe ist erst nach jahrelanger Wartezeit zu bekommen und Schulsozialarbeit wurde gestrichen. Bei 20 Kindern kann die Lehrkraft einiges auffangen. Bei 30 Kindern sind die Möglichkeiten des Lehrers stark eingeschränkt.