Studie: Konkurrenz zur DDR verhinderte die Ganztagsschule in der BRD

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Die Systemkonkurrenz mit der DDR war der Hauptgrund dafür, dass Kinder in der alten BRD nur selten eine Ganztagsschule besuchten. Das zeigt eine neue bildungshistorische Studie.

Der Ausbau der Ganztagsschulen wird in Deutschland seit mehr als zehn Jahren intensiv vorangetrieben. Damit sind hohe Erwartungen verbunden, zum Beispiel hinsichtlich einer verbesserten individuellen Förderung der Schulkinder.

In der ehemals nur westdeutschen Bundesrepublik besuchte hingegen durchgehend nur ein sehr geringer Teil aller Schülerinnen und Schüler eine ganztägig geführte Schule. Der Schultag endete meist um die Mittagszeit, was im internationalen Vergleich ein Sonderweg war. Eine jetzt herausgegebene zeithistorische und schulgeschichtliche Studie zur Entwicklung des Reformprojekts Ganztagsschule in der BRD der 1950er bis 1980er Jahre legt nun dar, wie es dazu kam: „Zur Beharrungskraft der westdeutschen Halbtagsschule trug im Kontext von Kaltem Krieg und Systemkonkurrenz maßgeblich die Existenz eines zweiten deutschen Staates bei“, so Dr. Monika Mattes vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Die Bildungshistorikerin hat die Studie größtenteils am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) erstellt und am DIPF vollendet. Finanziert wurden diese Arbeiten durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie durch die Volkswagen-Stiftung.

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Eine Garten anlegen, wie hier die Kinder einer Nordamerikanischen Schule, kann zum Ganztagsprogramm dazugehören. (Foto: U.S. Fish and Wildlife Service CC BY 2.0)
Eine Garten anlegen, wie hier die Kinder einer Nordamerikanischen Schule, kann zum Ganztagsprogramm dazugehören. (Foto: U.S. Fish and Wildlife Service CC BY 2.0)

In der Studie erläutert die Forscherin, dass das ganztägig ausgelegte staatliche Bildungssystem der DDR einen sozialistischen Gegenentwurf darstellte, von dem sich Westdeutschland permanent abgrenzen musste. „In der Bundesrepublik blieben kulturelle Vorstellungen, Ideen und Handlungen ungleich stärker als in der DDR vom Ernährer-Hausfrau-Modell geprägt und trugen so zur mentalen Verankerung der Halbtagsschule bei“, beschreibt Dr. Mattes die Folgen. Als weiteren Grund für den Fortbestand der Halbtagsschule in der BRD führt die Forscherin an, dass der freie Nachmittag zunächst als Privileg des Lehrerstandes verteidigt wurde und dann mit der Feminisierung des Berufs der wachsenden Zahl von Lehrerinnen die Vereinbarung von Beruf und Familie erleichterte. Mattes ergänzt: „Schließlich ist die in Westdeutschland besonders ausgeprägte institutionelle Abgrenzung von Bildung und Erziehung zu nennen, die mit ihren getrennten Praxisfeldern Schule und Jugendhilfe die Einführung der Ganztagsschule erschwerte.“

Die Studie zeichnet den Wandel des Diskurs- und Handlungsfeldes Ganztagsschule insgesamt nach. Dabei kommen verschiedene Untersuchungsmethoden zum Einsatz, zum Beispiel die diskursanalytische Rekonstruktion sowie sozial- und politikgeschichtliche Analysen. Als Quellenbasis nutzte Mattes Material aus staatlichen und Schul-Archiven sowie pädagogische Periodika, zeitgenössische Presseartikel und Publikationen, die nicht über den Handel vertrieben wurden – sogenannte graue Literatur. Zudem führte sie Interviews mit ehemaligen Schulleitungen und Lehrkräften. Die Ganztagsschule wird so nicht nur als Gegenstand der Bildungs- und Schulpolitik in den Blick genommen, sondern auch in ihren arbeitsmarkt-, familien- und geschlechterpolitischen Dimensionen im Kontext von Kaltem Krieg, Modernisierung und Verwestlichung verortet. Politik, Verwaltung und Pädagogik erhalten zudem anhand von drei Fallbeispielen Hinweise, welche Faktoren die Einführung von Ganztagsschulen unterstützen können.

Die Untersuchung von Dr. Monika Mattes ist unter dem Titel „Das Projekt Ganztagsschule“ in der Reihe „Zeithistorische Studien“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung im Böhlau Verlag erschienen.

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