Wird in der Schule zu viel über Sex geredet? Forscher: Im Gegenteil – Schüler mehr über Pornos aufklären

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JENA. In immer mehr Bundesländern wird über die Ausrichtung des Aufklärungsunterrichts gestritten. Zuletzt hatte der baden-württembergische CDU-Chef Guido Wolf kritisiert: In den Schulen werde zu viel über Sex gesprochen – das Thema gehöre mehr ins Private. Andererseits wollen SPD und Grüne „sexuelle Vielfalt“ stärker in den Lehrplänen etwa von Baden-Württemberg und Niedersachsen verankern; aktuell fordert auch der Landesschülerrat Thüringen, mehr über Sex und sexuelle Identitäten im Unterricht zu reden. Was ist denn nun richtig? Wir haben Uwe Hoßfeld gefragt, Professor für Didaktik der Biologie an der Universität Jena. Er ist auch als Vater von zwei Söhnen im Teenageralter mit dem Thema befasst.

Pornoseiten sind für Jugendliche leicht zu erreichen. Screenshot
Pornoseiten sind für Jugendliche leicht zu erreichen. Screenshot

Nach Ansicht vieler – aktuell beispielsweise der Landesschülervertretung Thüringen – kommt Sexualität im Unterricht zu kurz. Wie zeitgemäß ist der Aufklärungsunterricht? Wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?

Hoßfeld: Es muss früh begonnen werden, Kinder für dieses Thema zu sensibilisieren. Aber das muss altersgerecht und schrittweise sein. Die Kinder haben heute oft gar kein Bewusstsein mehr für ihren Körper und die Verantwortung, die sie ihrem Körper gegenüber haben. Ein großes Problem (für Thüringen, d. Red.) sehe ich darin, dass der Biologieunterricht in der 5. und 6. Klassen abgeschafft wurde. Stattdessen gibt es das Fach Mensch-Natur-Technik (MNT), das zum Beispiel auch Astronomie- und Mathematiklehrer unterrichten. Da kann es schon vorkommen, dass sie als Nicht-Biologen mit dem Thema Sexualität überfordert sind.

Jugendliche sind heute im Internet nur wenige Klicks von pornografischen Inhalten entfernt, von einer «Generation Porno» ist sogar die Rede. Wie färbt das auf den Unterricht ab?

Hoßfeld: Das bedeutet, dass wir im Unterricht stärker Medienkompetenz vermitteln müssen. Pornos sind Märchen für Erwachsene, die wenig mit der Realität zu tun haben. Wir als Lehrer und Eltern müssen das den Kindern klar machen – sonst besteht die Gefahr, dass sie Komplexe entwickeln. Und die Schüler müssen ganz anders abgeholt werden als früher. Wir müssen ihnen stärker vermitteln, welche Rollen Liebe und Gefühle spielen. Auch sehe ich den Unterricht bei Fragen der Verhütung gefordert. Für mich ist es ganz erstaunlich, dass das Thema Aids weitgehend aus den Medien verschwunden ist – nur weil es eine Tabletten-Therapie gibt und man nicht mehr daran stirbt.

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Konservative warnen vor «Frühsexualisierung» und Gleichmacherei hinsichtlich anderer sexueller Identitäten.

Hoßfeld: Ich meine, man sollte das Thema sachlich und wissenschaftlich angehen, die Parteipolitik ausblenden. Aus biologischer Sicht ist Sex nichts anderes, als dass ein Spermium in eine Eizelle eindringt. Aber die Gesellschaft verändert sich und damit auch die Anforderungen an den Aufklärungsunterricht. Wenn ein Schüler im Radio hört, ein Sportler habe sich umoperieren lassen und tritt jetzt als Frau an, dann will er natürlich wissen, wie das funktioniert und was da los ist. Aber es dauert Jahre, bis der Lehrplan angepasst wird; bis eine Entwicklung Einzug in die Lehrbücher hält, vergehen sechs bis zehn Jahre. Noch einmal resümierend: Das Thema Sexualität als Teil der Gesundheitserziehung ist ein immanenter Bestandteil der biologischen Bildung.

So bleibt es vorrangig dem Geschick des jeweiligen Lehrers überlassen, solche Fragen zu thematisieren?

Hoßfeld: Die Lehrer brauchen das Rüstzeug, um solche Entwicklungen parlieren zu können. Aber man darf das auch nicht überbewerten. Nur 1 von 2000 Babys ist intersexuell. Natürlich sind Schüler neugierig, wollen wissen, was sich hinter bisexuell, transsexuell und Homoerotik verbirgt. Hier sehe ich aber nicht nur uns Biologen gefordert. Ich plädiere dafür, dass sich auch Religions- und Ethiklehrer einbringen – die haben auf diese Fragen noch einmal eine andere Sicht. Man könnte das zum Beispiel fächerübergreifend in der 8. Klasse oder der Sekundarstufe II thematisieren. Interview: Andreas Hummel, dpa

Zum Bericht: Protest gegen „sexuelle Vielfalt“ im Unterricht schwillt an – über 4.000 Demonstranten in Stuttgart

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MNT
8 Jahre zuvor

Als Physiker durfte / musste ich auch mal MNT in Klasse 5 unterrichten. Fortpflanzung war nur für Säugetiere (ohne den Menschen) vorgesehen. Ich fand es mal interessant, sich mehr oder weniger gezwungenermaßen intensiv mit Wirbeltieren auseinander zu setzen und dem Fach MNT mal „physikalischen Touch“ inkl. hin und wieder etwas zu rechnen zu lassen. (JA, auch in Biologie und auch in Biologie Klasse 5 kann man rechnen lassen !!). Dauerhaft überlasse ich das Fach aber lieber den Biologen, auch wenn die dann die Hebelgesetze vermitteln müssen.

Das Fach MNT sehe ich insgesamt kritisch, weil es wohl ein aus der Not (= Mangel an Physiklehrern) geborenes Kind ist, sprich Erweitern von Biologie um eine Wochenstunde, dafür aber Aufnahme von gewissen Inhalten der Physik, Chemie, Technik. Physiker wissen aus eigener Erfahrung in der Oberstufe, warum ihr Fach bei den Schülern so unbeliebt und die Biologie so unbeliebt ist. Ein Grund ist die Mathematik, der andere ein wesentlich geringeres (Abstraktions-) Niveau. Eine Biologielehrerin bezeichnete ihr Fach im Gespräch mit mir mal „Naturwissenschaft light“. Das bringt es ganz gut auf den Punkt.