Inklusion und jetzt Flüchtlingskinder: Schulen kapitulieren unter der Aufgabenlast – 122 Brandbriefe allein in Hessen

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WIESBADEN. Das Thema Flüchtlingskinder hat das Thema Inklusion aus den bildungspolitischen Schlagzeilen verdrängt. Das heißt aber nicht, dass die Probleme mit der Inklusion deshalb gelöst wären.

Im Gegenteil: Es ist unschwer vorherzusagen, dass der gewaltige Kraftakt, vor dem die Schulen mit der Eingliederung von 300.000 sprachförderbedürftigen und zum Teil traumatisierten Kindern und Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan oder Afrika aktuell stehen, das ohnehin schon unter Volllast knarzende Schulsystem ins Wanken bringen wird – wenn die Politik den Druck auf die Schulen, den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Schülern voranzutreiben, nicht senkt. Jetzt wurde bekannt: Allein in Hessen haben 122 Schulen sogenannte Brandbriefe ans Ministerium geschickt. Sie sehen sich insbesondere nicht in der Lage, die Inklusion wie gewünscht umzusetzen.

Die Stimmung in vielen Kollegien ist explosiv. Foto: Wurfmaul / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Die Stimmung in vielen Kollegien ist explosiv. Foto: Wurfmaul / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Wenn eine Schule in einem so genannten Brandbrief meldet, dass sie überlastet ist und ihre pädagogischen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, dann ist das keine Kleinigkeit. Wir erinnern uns: 2006 geriet die Berliner Rütli-Schule im Problemstadtteil Neukölln bundesweit in die Schlagzeilen, weil sie der Gewalt auf dem Schulhof nicht mehr Herr wurde – und dies in einem Brief an die Senatsverwaltung mitteilte.

In den vergangenen Monaten wurden im Zusammenhang mit der Inklusion bundesweit mehrere Brandbriefe bekannt, in denen Schulen bekannten, dass sie die in sie gesetzten Ansprüche angesichts der zu knapp bemessenen personellen Ausstattung nicht erfüllen können. Die Dimension, die die Bewegung nun erreicht, ist bundesweit beispiellos: Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) musste jetzt auf eine Anfrage der SPD hin einräumen, dass es in seinem Bundesland 122 „Überlastungsanzeigen“ von Schulen gebe. Sie beklagten sich, so berichtet die „Frankfurter Rundschau“, dass sie mit dem gleichen Personal immer neue Aufgaben zu bewältigen hätten – Integration und Inklusion, kommentierte Noten oder zusätzliche Erhebungen des Lernstands.

Wohlgemerkt: Die meisten dieser Schreiben wurden vor Monaten verfasst,  als noch kaum von Flüchtlingskindern die Rede war. Die Belastung dürfte sich durch die neue Situation, auch wenn bundesweit zusätzliche Lehrerstellen geschaffen werden, noch einmal drastisch verschärften.

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Lorz habe dem SPD-Bildungspolitiker Christoph Degen gleichwohl geschrieben, bei den Beschwerden handele es sich allerdings nicht um Überlastungsanzeigen im juristischen Sinne, so heißt es. Es gehe in den Mitteilungen der Kollegien nicht „um Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes“. Außerdem seien „keine Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz und in den Schulräumlichkeiten enthalten“. Natürlich nicht: Es geht um Kapitulation. Die Kollegien hissen angesichts der Flut von Aufgaben die weiße Fahne – und fordern nur noch Entlastung. Konkret: eine Verringerung der Pflichtstunden sowie mehr Hilfe durch Sozialpädagogen, Psychologen und Förderschullehrer.

Der recht formale Kommentar des Ministers, der zudem auf eine angeblich numerisch gute Lehrerstellenversorgung verweist, bringt indes die GEW auf die Palme: „Er müsste als verantwortlicher Minister erkennen, dass das ein Aufschrei der Kolleginnen und Kollegen ist“, sagte Hessens GEW-Chef Jochen Nagel der Zeitung zufolge. Im Vergleich zu anderen Bundesländern sei die Unterrichtszeit für Lehrer in Hessen besonders hoch. Es gebe aber „kein Bemühen der Landesregierung, die Belastung herunterzufahren“, beklagte Nagel.

Erst war es das Kollegium einer Gesamtschule aus dem hessischen Kassel, das sich mit einem Brandbrief in Sachen Inklusion an die Politik wandte. Dann wurden zwei weitere Fälle bekannt, in denen sich Schulen mit Hilferufen an ihre jeweiligen Bildungsbehörden wenden: In Berlin warnen Grundschulleiter eindringlich vor dem Scheitern der Inklusion. In Hamburg forderten Lehrer- und Elternschaft einer Stadtteilschule gemeinsam mehr Unterstützung. Tenor: immer mehr verhaltensauffällige Kinder und eine Lehrerschaft, die auf dem Zahnfleisch geht. News4teachers

Zum Bericht: Inklusion: Immer mehr Schulen kapitulieren – zwei neue Brandbriefe

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M. J.
8 Jahre zuvor

Die GEW sollte sich in ihrer Empörung über die Überbelastung von Lehrern, die auch vor den Flüchtlingen schon da war, lieber zurückhalten. Dieser scheinheilige Verein regt mich von Tag zu Tag mehr auf.
Erst brockt er den Schulen und Lehrern die Inklusion ein, dann schiebt er die Schuld für die Unlösbarkeit der Unterrichtsprobleme auf mangelndes Lehr- und Hilfspersonal.
Die GEW-gewollte Inklusion ist das eigentliche Problem. Zu wenig Personal kommt höchstens verschärfend hinzu. Immer mehr Flüchtlingskinder werden auch nur dazu beitragen, dass sich die GEW bei ihrer Anti-Politik gegen die Leistungskraft von Schulen und Lehrern noch beser als bisher auf zu wenig Personal rausreden kann.
Hielte sich die GEW aus der Bildungspolitik raus und setzte sie ihre Kraft als Gewerkschaft ausschließlich dazu ein, die Interessen ihrer Mitglieder, der Lehrer, zu vertreten, sähe es an den Schulen besser aus.
Aber nein, diese Schein-Gewerkschaft fühlt sich zu Höherem berufen und will unbedingt das schulische Geschehen diktieren, so als sei sie politische Partei und säße als bestimmende Kraft auf der Regierungsbank.

mehrnachdenken
8 Jahre zuvor
Antwortet  M. J.

Worüber regen Sie sich auf?
Die GEW ist Ideologie geleitet. Seit jeher ist es ihr Bestreben, die Schullandschaft in IHREM SINNE zu verändern.
Sie lockt die L an, indem sie sich vordergründig für z.B. bessere Arbeitsbedingungen, mehr Geld o.ä. einsetzt.
Unterrichtsmaterialien (z.B. „sexuelle Vielfalt“) offenbaren ihre eigentliche Gesinnung.

PseudoPolitiker
8 Jahre zuvor
Antwortet  M. J.

Den Schulen und Lehrern unlösbare Probleme zu bescheren, für deren Bewältigung dann unter großer öffentlicher Zustimmung und entsprechendem Druck mehr Lehrer und anderes Personal gefordert wird, ist vielleicht auch eine Möglichkeit, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zu erhöhen.

Pälzer
8 Jahre zuvor

Vorhersehbar.

dickebank
8 Jahre zuvor

Henne oder Ei. Es ist müßig die GEW wegen ihrer politischen Agenda zu diskretitieren. Die Frage ist doch, haben die Mitglieder der GEW diesen politischen Kurs selbst festgelegt, oder ist dieser Kurs von der Gewerkschaftsführung im Interesse ihrer Mitglieder festgelgt worden. Wenn Gewerkschaftsmitglieder sich in dieser oder in anderen Fragen von den Beschlüssen der Führung nicht vertreten fühlen, haben sie zwei Möglichkeiten.

1) Austritt
2) Eine Mehrheit für den eigenen Standpunkt innerhalb der Gewerkschaft zu finden und die Führung auf diesen neuen Kurs festzulegen. Lässt sich die Führung nicht festlegen, dann bleibt nur die Abwahl.

Leute außerhalb der Gewerkschaft könne diese zwar kritisieren, sie können aber genauso gut den Mond anbellen. Um sich gesellschaftlich und schulpolitisch mit der GEW auseinander zu setzen bleibt ihnen allerdings nur die Möglichkeit sich in einer gesellschaftlich relevanten Gruppe außerhalb zu organisieren.

Warum sind wohl die Beschäftigten bei den Luftverkehrsunternehmen dabei, eine eigene „Industriegewerkschaft Luftverkehr“ zu gründen, damit sie gemäß den Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes auch die Mitarbeiter aus den Bereichen Technik, Küchen usw. vertreten kann, die derzeit noch bei VER.Di organisiert sind.

Es kann keiner gezwungen werden, sich in der GEW zu organisieren. Es hat aber jeder das Recht eine eigene Gewerkschaft zu gründen. Also weniger nörgeln sondern selbst aktiv werden!

Kata Stiefel
8 Jahre zuvor

Genau so ist es! Hier wird die GEW für Dinge verantwortlich gemacht, die sie nicht verursacht hat. Die GEW setzt sich beharrlich und kompetent für die Belange der Lehrerinnen und Lehrer ein.

Geog
8 Jahre zuvor
Antwortet  Kata Stiefel

Jupp, genau das tut sie.

Und ihre Forderungen bezüglich der Inklusion richten sich genau auf das, was Schulen und Lehrkräfte dafür brauchen: durchdachte Konzepte, mehr Personal, kleinere Klassen, bessere Ausstattung und hochwertige Weiterbildungen.