Splatter im Schattenriss: Deutsche Premiere von Nick Dears „Frankenstein“-Adaption in Essen – beeindruckend

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ESSEN. Leblose Körper. Von Neonlicht beleuchtet in einer industriellen Vitrine. Drohende Tieftöne untermalen die Szenerie akustisch. Eine der Türen öffnet sich. Ein nackter, verstümmelter Mann wird ausgespien. Er klatscht auf den Bühnenboden. Er zuckt wie unter Stromstößen. Windet sich unter Schmerzen. Schreie. Stöhnen. Minutenlang ruckt und krampft die Kreatur. Mühsam lernt sie, ihre Glieder zu kontrollieren. Langsam zieht sie sich empor, an einer der Leitern, die auf der Bühne verteilt stehen – und allesamt im Nichts enden. Mit einem starren Blick tritt das Monster nach vorne. Und mustert sein Publikum, dem von der Wucht der Darstellung dieser grotesken Geburt jede Heiterkeit vergangen sein dürfte, die es womöglich aus dem Foyer noch mit in den Saal getragen hat.

Eindrucksvolle Performance: Axel Holst (l.) als Monster und Thomas Meczele als Frankenstein. Foto: Schauspiel Essen
Eindrucksvolle Performance: Axel Holst (l.) als Monster und Thomas Meczele als Frankenstein. Foto: Schauspiel Essen

Wer erwartet hatte, an diesem Abend im Essener Grillo-Theater ein eher seichtes Gruselstück zu erleben, wusste es spätestens jetzt besser: Bei der „Frankenstein“-Adaption des britischen Dramatikers Nick Dear, deren deutsche Übersetzung nun erstmals auf einer deutschen Bühne zu sehen war, geht‘s ans Eingemachte.

In London war das Stück bis 2011 im Royal National Theatre aufgeführt worden. Regie führte seinerzeit Oscar-Preisträger Danny Boyle („Trainspotting“, „Slumdog Millionaire“). In den Rollen von Frankenstein und dem Monster wechselten sich damals Jonny Lee Miller, Ex-Ehemann von Angelina Jolie, sowie Nachwuchsstar Benedict Cumberbatch („Sherlock“) ab – und das so erfolgreich, dass die Aufführungen seinerzeit in Kino-Säle übertragen wurden, um den Andrang halbwegs bewältigen zu können. Große Fußstapfen also, in die das Essener Ensemble unter der Leitung von Gustav Rueb nun trat. Und, um es vorweg zu nehmen: mit Bravour ausfüllte. Vor allem Axel Holst in der Rolle des Monsters, das sich im Lauf der fast dreistündigen (und über die gesamte Länge überzeugende!) Inszenierung vom bizarren Säugling zum verzweifelten, die Tiefgründe der menschlichen Bosheit philosophisch auslotenden Satan entwickelt, aber auch Thomas Meczele in der Titelrolle des auf schmalem Grat zwischen Genie und Wahnsinn wandelnden Wissenschaftlers, beeindruckten.

Dear hat den früher irrtümlich als reinen Horrorstoff geltenden Klassiker Mary Shelleys von der Vorgeschichte befreit und sich auf die Entwicklung der Kreatur und auf das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf beschränkt, und zwar aus Sicht von letzterem. Das Monster ist es, dessen Weg durch die dunklen und niederen Gefühlswelten des Menschseins vom Publikum begleitet wird. Ein Lichtblick, die Zeit der Hoffnung mit dem blinden verarmten Gelehrten de Lacey (gespielt von Jens Winterstein), der ihm erst sprechen, dann lesen und philosophieren beibringt, endet mit Enttäuschung. Und mit einem Blutrausch. Dessen Ergebnis zeigt eine Szene im sich drehenden Bühnenaufbau. Ein brennendes Bett. Leichen drumherum drapiert.

Überhaupt das Bühnenbild von Daniel Roskamp: karg und kalt, aber mit dramatisierenden Proportionen. Die Zeit zitierend, in der das Stück entstand, ohne daraus einen Kostümschinken zu machen. Und mit Mut zur Ironie. So spielt die Inszenierung in der Szene, in der Frankenstein aus Leichenteilen eine Braut für seine Kreatur baut, mit allen Horror-Klischees. Splatter im Schattenriss auf verdeckendem Vorhang.

Am Ende aber: großes Kino. Es geht um die existenziellen Fragen, um Leben, Hybris und Tod, um Liebe – und ihr Gegenstück, die kalte Ratio. Der Hass, der aus diesem Gemenge erwächst, erscheint am Schluss fast menschlich. Menschlicher als der herzlose Verstand, dem alles Machbare machenswert erscheint und der – so viel zur Aktualität des Stückes – auch den Genpool des Menschen verändern würde, um ihn zu optimieren. In der Brutalität dieser Botschaft mag es begründet liegen, dass die Premiere in Essen vom Publikum zwar mit langanhaltendem Beifall, aber nicht mit Standing Ovations quittiert wurde. Dies sei an dieser Stelle nachgeholt: Einer der eindrucksvollsten Theaterabende für den Autoren dieser Zeilen seit Jahren. Für Schüler übrigens ein ziemlich harter Stoff, der aber keinen unberührt lassen dürfte. Deshalb: Für die Oberstufe empfehlenswert. ANDREJ PRIBOSCHEK, Agentur für Bildungsjournalismus

Zum Bericht: Vom Monster im Menschen und Menschen im Monster – Frankenstein im Theater

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2 Kommentare
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Pälzer
8 Jahre zuvor

Brutalität ist eine Droge wie andere auch: Von Jahr zu Jahr muss die Dosis gesteigert werden.

DandY
8 Jahre zuvor

@Pfälzer absolut unqualifizierter kommentar. die gewalt im stück ist nicht wirklich drastisch noch relevant. die hommage an den trash horror in der hinter ein vorhang ein schatten auszumachen ist der eine frau erst zusammensetzt und danach mit einer axt wieder erschlägt ist nun mal teil des stoffes…

habe das stück gestern gesehen und bin wirklich begeistert. ein wunderbares beispiel dafür was theater heute kann, kurzweilige unterhaltung mit tiefsinnigen texten. nicht verkopft aber auch nicht stumpf.