Steigende Kinderarmut: Mittlerweile fast zwei Millionen Jungen und Mädchen leben von Hartz IV

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GÜTERSLOH. Fast zwei Millionen Jungen und Mädchen sind in Deutschland auf Hartz IV angewiesen. Vor allem Kinder von Alleinerziehenden oder aus großen Familien. Sie müssen gezielter unterstützt werden, fordern Experten.

Alleinerziehende Mütter und ihre Kinder sind häufig von Armut betroffen. Foto: Natasha Chub-Afanasyeva / flickr (CC BY 2.0)
Alleinerziehende Mütter und ihre Kinder sind häufig von Armut betroffen. Foto:
Natasha Chub-Afanasyeva / flickr (CC BY 2.0)

Kinderarmut in einem reichen Land: Trotz guter wirtschaftlicher Lage steigt in Deutschland die Zahl der Kinder, deren Familien auf Sozialleistungen angewiesen sind. Nach Berechnungen, die die Bertelsmann-Stiftung am Montag vorlegte, kletterte die Quote der unter 18-Jährigen in Hartz-IV-Haushalten in den westlichen Bundesländern von 12,4 Prozent im Jahr 2011 auf 13,2 Prozent im Jahr 2015. Im Osten sank der Anteil armer Kinder im selben Zeitraum zwar um 2,4 Prozentpunkte, blieb aber mit 21,6 Prozent vergleichsweise hoch.

Damit wuchsen vergangenes Jahr in Deutschland insgesamt mehr als 1,9 Millionen Jungen und Mädchen in Armut auf (14,7 Prozent) – 52.000 mehr als noch 2011. Das ist fast jedes siebte Kind.

Sorgen bereitet den Forschern, dass viele der Jungen und Mädchen über längere Zeit in der Armut feststecken: Im Schnitt sind 57,2 Prozent der betroffenen Kinder zwischen 7 und 15 Jahren mehr als drei Jahre auf Grundsicherungsleistungen angewiesen.

«Je länger Kinder in Armut leben, desto gravierender sind die Folgen», sagte Anette Stein, Familienpolitik-Expertin der Bertelsmann-Stiftung. So zeige die Auswertung einer Vielzahl von Studien der vergangenen Jahrzehnte zum Thema, dass arme Kinder sozial isolierter aufwachsen, gesundheitliche Nachteile haben und häufiger Probleme auf ihrem Bildungsweg haben als Altersgenossen, deren Eltern keine finanziellen Sorgen haben.

Armutsrisiko: alleinerziehend

Das höchste Armutsrisiko hat den Daten zufolge der Nachwuchs von Alleinerziehenden oder aus kinderreichen Familien. Mit fast einer Million wächst mehr als die Hälfte aller Kinder im Hartz-IV-Bezug bei nur einem Elternteil auf, meist der Mutter. 36 Prozent leben mit zwei oder mehr Geschwistern.

Kinder- und Familienorganisationen forderten eine finanzielle Entlastung der Betroffenen. Es sei «skandalös» und «alarmierend», dass die Politik es bislang nicht geschafft habe, die steigenden Armutsquoten unter Kindern aufzuhalten, kritisierten die Wohlfahrtsverbände. Neben einer deutlichen Erhöhung der Hartz-IV-Sätze forderten sie, auch Einrichtungen wie Kitas oder Jugendzentren mehr zu unterstützen. «Starke Institutionen können Kindern das bieten, was sie zuhause eventuell nicht bekommen», sagte der Awo-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) sieht sich dennoch auf einem richtigen Weg. «Ich nehme das Problem der Kinderarmut sehr ernst», erklärte die SPD-Politikerin in Berlin. Mindestlohn, Kita-Ausbau und Elterngeld sowie die Erhöhung des Kinderzuschlags um 20 Euro seien wichtige Schritte. Auch solle man die derzeitigen finanziellen Spielräume nutzen, um mit einer Reform des Unterhaltsvorschusses Alleinerziehende besser zu unterstützen.

„Fetisch der schwarzen Null“

Der Opposition im Bundestag geht das nicht weit genug: Statt antiquierter Familienförderung per Ehegattensplitting sei Kindergrundsicherung nötig, die jedes Kind erreiche und Alleinerziehende nicht länger außen vor lasse, forderten die Grünen. Der jugendpolitische Sprecher der Linksfraktion, Norbert Müller, kritisierte fehlenden politischen Willen. Die Regierungsparteien schreckten vor Investitionen in Kinder zurück: «Man will da nicht ran, weil überall der Fetisch der schwarzen Null das Entscheidende ist», sagte er dem rbb inforadio.

Armutsgefährdet sind der Studie zufolge besonders Familien, die in Städten leben. Darin spiegelten sich auch die wirtschaftliche Lage, etwa ein generelles Nord-Süd-Gefälle, sowie strukturelle Probleme innerhalb der Länder. So gibt es Städte, in denen mehr als jedes dritte Kind auf Grundsicherung angewiesen ist. Bayern und Baden-Württemberg haben mit 6,8 Prozent bzw. 8,0 Prozent die niedrigsten Anteile in ganz Deutschland. dpa

Zum Bericht: Immer mehr Alleinerziehende rutschen in Armut – Psychologe: Kinder bekommen dann oft auch Probleme in der Schule

Satt und doch benachteiligt: Kinderarmut in Deutschland

Was bedeutet Kinderarmut im reichen Deutschland, woher rührt sie und was könnte man tun? Experten geben Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Armut ist ein großes Wort – wovon sprechen wir in Deutschland?

Wo Armut beginnt und was noch als eine kärgliche Lebensweise durchgeht, wird immer wieder diskutiert. Verhungern muss im deutschen Sozialstaat niemand. Gängige Armutsdefinitionen orientieren sich daher am Geldbeutel der Mehrheit. Doch auch relative Armut hat Folgen: «Je deutlicher Kinder unter einer solchen Schwelle liegen, desto stärker leidet das Selbstbewusstsein», sagt der Soziologieprofessor Klaus Hurrelmann von der Berliner Hertie School of Governance. «Arme Kinder wissen, dass sie weniger haben als andere, fühlen sich damit weniger wertvoll und herabgesetzt – mit Folgen für ihr Heranwachsen.»

Wer ist betroffen und in welchem Ausmaß?

2015 wuchsen nach Angaben der Bertelsmann-Stiftung 1 931 474 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Hartz-IV-Haushalten auf – fast ein Siebtel. Nimmt man Jungen und Mädchen hinzu, deren Eltern weniger als als 60 Prozent des mittleren Einkommens haben, gelten nach Angaben der Wohlfahrtsverbände sogar drei Millionen Kinder als arm.

Von wieviel Geld leben Familien, die Sozialleistungen bekommen?

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) erhielt eine Alleinerziehende mit einem Kind 2015 im Schnitt monatlich 1261 Euro an staatlichen Leistungen – das bezieht Wohngeld, Grundsicherung und weitere Ansprüche mit ein, etwa wenn die Waschmaschine kaputt geht. Die Zahl der Kinder lässt das Haushaltbudget steigen: 1600 Euro bekam die Alleinerziehende mit zwei, 1998 Euro mit drei Kindern. Bedürftige Paare mit einem Kind hatten durchschnittlich 1686 Euro, bei zwei Kindern 2031 Euro und bei drei und mehr Kindern 2515 Euro. Zum Vergleich: Ein Single bekam im Schnitt 918 Euro Wohngeld und Hartz-IV-Leistungen. Ab 2017 steigen die Regelsätze leicht: Je nach Alter werden pro Kind dann 5 bis 21 Euro mehr gezahlt.

Was sind die Ursachen von Kinderarmut?

Für Familien, in denen das Geld knapp ist, sind Kinder ein Armutsrisiko. «Kinder kosten Geld und vor allem auch die Zeit der Eltern. Der Staat erkennt diese Leistung weiterhin zu wenig an, indem er stärker Ehen statt Kinder fördert», sagt die Familienpolitik-Expertin der Bertelsmann-Stiftung, Anette Stein. Das trifft zwei Gruppen besonders hart: Die meisten armen Kinder wachsen bei Alleinerziehenden oder mit vielen Geschwistern auf. Die Finanznöte vieler Mehrkind-Familien kennt auch der Verband kinderreicher Familien. «Wer drei Kinder oder mehr hat, braucht zum Beispiel ein größeres Auto, mehr Wohnraum», sagt dessen Vorsitzende Elisabeth Müller. «Widmet sich ein Elternteil der Erziehung, ist das meist mit nur einem Gehalt schnell nicht mehr zu stemmen.»

Liegt der Anstieg auch am Flüchtlingszustrom?

Zwar ist die Zahl der anerkannten Flüchtlinge, die Grundsicherungsleistungen erhalten, nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sprunghaft gestiegen. Darunter seien aber vor allem alleinreisende Männer und vergleichsweise wenige Familien, sagte ein Sprecher. Den Anstieg der Kinderarmut erkläre dies folglich nicht komplett, auch wenn Flüchtlingskinder in den Daten auftauchten.

Was bedeutet Armut für Kinder?

Studien belegen, dass aus den finanziellen Nöten der Eltern soziale oder gesundheitliche Benachteiligungen entstehen können. «Arme Kinder können seltener Freunde mit nach Hause bringen, der Kindergeburtstag fällt aus – so kann materielle Armut der Eltern auch zu sozialer Isolation führen», erläutert Stein. Gravierend ist die Auswirkung von Armut auf die Bildungswege: Die betroffenen Kinder bleiben häufiger sitzen, schaffen seltener den Sprung auf das Gymnasium. Mit langfristigen Folgen, wie Hurrelmann betont: «Einmal schlecht gestartet, werden diese Kinder auch im späteren Leben immer wieder darauf gestoßen, dass sie weniger wert sind.»

Was fordern Verbände und Kirchen, um Kinderarmut zu bekämpfen?

Schon im Frühjahr starteten Kirchen und Verbände einen Aufruf zur Bekämpfung von Kinderarmut. Es belaste einkommensschwache Familien zu Unrecht, wenn Kindergeld mit Sozialleistungen verrechnet werde, kritisierten sie. Die Leistungen deutlich zu erhöhen sei höchste Zeit, betont beispielsweise der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. An die Sozialleistungen für Kinder will auch die Bertelsmann-Stiftung: «Die staatliche Existenzsicherung für Kinder muss neu gedacht werden», fordert Stein. Man könne nicht wie bislang davon ausgehen, dass Kinder kleine Erwachsene mit entsprechend kleineren Bedürfnissen seien und so die Hartz-IV-Regelsätze festlegen.

Welche anderen Ansätze sind denkbar?

Nicht nur mit Geld bekämpft man Armut, sondern auch mit Teilhabemöglichkeiten, betonen die Experten einhellig. Manche wie der Soziologe Hurrelmann sehen hier sogar die zentrale Stellschraube: «Eine ständige Erhöhung des Kindergeldes ist nicht zielgenau. Wir müssen auch Geld in die Institutionen bringen, damit etwa im Kindergarten gezielt die Schwachen gefördert werden.»

 

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