Geht das: Doppelt so schnell lesen – ohne, dass das Verständnis leidet?

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WUPPERTAL. Zeit sparen durch schnelleres Lesen: Das versprechen Apps, Bücher und Seminare. Die Wissenschaft ist sich noch uneins – aber Erfolge scheinen möglich.

Geschwindigkeit ist keine Hexerei - oder doch? Foto: Björn / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Geschwindigkeit ist keine Hexerei – oder doch? Foto: Björn / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Gedruckte Texte mögen langsam verschwinden – doch dank des Internets wird heutzutage gefühlt mehr gelesen denn je. Wie viel Zeit man doch sparen könnte, würde das Lesen schneller gehen! Genau das verspricht das Prinzip Schnelllesen: Fast jeder soll seine Geschwindigkeit deutlich steigern können, ohne dass das Verständnis darunter leidet. Das kann funktionieren, sagen Experten – aber nicht alle Übungen sind sinnvoll.

«Für die meisten Personen halte ich eine anderthalb- bis zweifache Lesegeschwindigkeit ohne Verständnisverlust für absolut realistisch», sagt Ralph Radach, Professor für Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal, der über das Schnelllesen forscht. Das normale Lesetempo liege bei etwa 150 bis 250 Wörtern pro Minute, abhängig von der Komplexität des Textes. Nur: Bieten populäre Kurse und Apps auch das richtige Rüstzeug?

Grundlage: Beim Lesen springt das Auge mehrmals pro Sekunde von Punkt zu Punkt, auf komplizierten oder unbekannten Wörtern oder Wortgruppen bleibt es länger hängen. Ein gewisser Anteil der Bewegungen geht auch zurück, etwa weil ein Aspekt nicht verstanden wurde (die sogenannte Regression). Und auch wenn man es nicht bemerkt: Eine Art innere Stimme spricht dabei den Text mit und ist an Worterkennung und Verständnisbildung beteiligt (Subartikulation). Im Hirn laufen verschiedene, miteinander verzahnte Prozesse dabei ab.

Ansatz: In Schnelllese-Programmen sollen Leser häufig trainieren, mehr Wörter mit einem Blick zu erkennen, schneller weiterzuspringen, Rücksprünge zu vermeiden und die Subartikulation zu beschleunigen oder ganz abzustellen. Dazu können Strategien kommen, wie man mit bestimmten Textarten umgehen sollte.

Solche Übungen bieten Apps fürs Smartphone, Bücher, Videokurse und Seminare mit Trainern an. Rund 60 Kursanbieter gebe es derzeit in Deutschland, sagt Peter Rösler, Autor eines Sachbuchs zum Thema und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schnell-Lesen. Vor rund 15 Jahren sei es gerade eine Handvoll gewesen.

«Das Schnelllesen ist kein Fachgebiet wie Mathematik oder Physik, wo alles einigermaßen klar ist», warnt Rösler, der selbst ein Training anbietet. Im Umlauf seien viele Informationen, die nicht wissenschaftlich belegbar sind. Forscher Radach zufolge gibt es keine Wunderübung – es sei die allmähliche, konzentrierte Erhöhung des Lesetempos, die zum Erfolg führen kann. So komme man vom Lesen von einzelnen Wörtern zum «ganzheitlichen» Lesen, dem schnelleren Erkennen ganzer Wortgruppen.

Dabei sollte stets das Verständnis kontrolliert werden – manche Kurse oder Programme täten das allerdings mit ungenauen Methoden, die Erfolg vorgaukelten. «Das Kriterium guten Lesens ist das erreichte Verständnis», sagt Radach. Das Schnelllesen grenzt sich vom systematischen Überfliegen («Skimming») ab, bei dem gezielt nur bestimmte Informationen aus einem Text gezogen werden sollen.

Unnütze Übungen: Was genau ein Schnelllese-Training erfolgreich macht, sei noch nicht hinreichend erforscht. «Es gibt unseriöse Statements, die nicht durch die Kursinhalte gedeckt sind», sagt Radach. Skeptisch ist er bei Übungen, die ihm zufolge nur Symptome bekämpfen. Beispiel: Gute Schnellleser trainieren sich ein Verstehen des Textes beim ersten Lesen an und müssen seltener mit den Augen zurückspringen. Wer sich diese Regression aber schon zu Beginn des Trainings abgewöhnt, kann Textinformationen verpassen.

Auch die innere Stimme gehöre zum Lesen dazu – das Abtrainieren sei nicht realistisch. Lediglich Leser, die sich sozusagen im Echtzeit-Sprechtempo selbst zuhören müssen, sind gebremst. «Aber wer übt, kann schneller werden.»

Zielgruppe: Ein Schnelllese-Training lohnt sich vor allem für Menschen, die in Beruf oder Studium viel lesen müssen – aber natürlich lässt sich auch ein Roman beschleunigen. Viele Beamte, Juristen, Wissenschaftler, Studenten und Banker besuchten Kurse beim Anbieter Improved Reading, berichtet Geschäftsführer Peter Stonn. Ihnen gehe es häufig um das Durcharbeiten von Sach- und Fachliteratur oder langen Korrespondenzen. «Diese Leute haben einen bestimmten Druck.»

Auch Jonas Ritter von Ritter Speed Reading lehrt viele Akademiker und Forschende – niemand in seinen Kursen lese weniger als eine halbe Stunde am Tag beruflich, viele deutlich mehr. «Die Menschen lesen heute viel mehr als noch vor zehn Jahren», sagt Ritter.

Beide Anbieter sehen eine deutliche Steigerung des Interesses in den vergangenen Jahren. Allerdings sei das schnelle Lesen nicht in jedem Beruf gleich gut geeignet, sagt Vereinsvorsitzender Rösler: In Programmiersprachen etwa ist jedes Zeichen wichtig – das erfordere eine andere Art von Lesen.

Methode: Ob ein Interessent nun per Buch, App oder Seminar lernt, mache im Prinzip keinen Unterschied, sagt Radach. Gruppenkurse mit Trainern trügen aber bei vielen Menschen zur Motivation bei. Wer sich unsicher ist, ob er ein oft teures Seminar besuchen will, kann auch zunächst zu günstigeren Apps oder Büchern greifen, die oft ähnliche Inhalte vermitteln.

Kritik: Die Wissenschaft ist sich beim Thema Schnelllesen noch uneins, wie Radach sagt. Seine Forschung weist auf das Potenzial hin, eine Gruppe von nordamerikanischen Forschern kam allerdings jüngst in einer umfassenden Analyse zum Schluss, dass eine Temposteigerung mit einem Verständnisverlust einhergeht.

«Es gibt keine schnelle und einfache Vorgehensweise, die uns erlaubt, einen Text schneller zu lesen und dabei auf dem gleichen Niveau zu verstehen wie beim aufmerksamen Lesen», heißt es in der Studie. Wer allerdings in der Sprache versierter wird, könne auch schneller Text verarbeiten, etwa weil ihm seltene Wörter geläufig sind. Von Kim Alexander Zickenheiner, dpa

 

Fantastische Lesegeschwindigkeiten

Eine Dreiviertelstunde soll eine englische Schnellleserin 2007 gebraucht haben, um den kompletten neuen Harry-Potter-Roman zu lesen. Das ist eine Geschwindigkeit von rund 4200 Wörtern pro Minute. Andere Leser nehmen für sich ein noch deutlich höheres Tempo in Anspruch.

Leseforscher Ralph Radach zufolge gibt es speziell begabte Menschen, die mit jahrelangem Training sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen können – und dabei den Text immer noch recht gut verstehen. In Deutschland gebe es nur sehr wenige Angebote für sehr teure und arbeitsintensive Kurse, die ein solches «optisches Schnelllesen» lehren, sagt Peter Rösler, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schnelllesen. Eine Erfolgsgarantie gebe es nicht, der Erfahrung nach schaffe es jeder Zweite, die Technik zu erlernen.

Ein Ansatz zum Schnelllesen sind Programme, die nur einzelne Wörter in schneller Abfolge auf dem Bildschirm anzeigen. Die Idee nennt sich RSVP (englische Abkürzung für rapide aufeinanderfolgende visuelle Präsentation). Dabei soll die Anzeige so positioniert sein, dass das Auge stets auf den gleichen Punkt fokussiert ist. Solche Systeme gibt es unter anderem in bestimmten Apps und als Plugin für den Browser. Leseforscher Ralph Radach ist skeptisch: Viele Untersuchungen hätten große Nachteile gezeigt. Die Anzeige beeinträchtige den Lesefluss und verhindere die Erfassung von Wortgruppen sowie den Blick zurück bei Verständnisproblemen. Für einfache, kurze Texte auf kleinen Bildschirmen (etwa einer Smartwatch) könnten die Systeme aber ihren Nutzen haben.

 

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