Der TIMSS-Schock: Nur der Vorbote für ein neuerliches PISA-Debakel in der nächsten Woche?

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BERLIN. Die «Testeritis» im Bildungssystem kulminiert in einem Feuerwerk von Zahlen, Trends und Empfehlungen: Wie muss Schule funktionieren, um möglichst alle mitzunehmen? Mäßige Mathe-Ergebnisse der Viertklässler zeigen, dass in Deutschland noch viel zu tun ist.

In Südkoreas Grundschulen ist die Welt der Mathematik noch in Ordnung. Bei uns weniger. Foto: Tuojia Elementary School (CC BY-NC-SA 2.0)
In Südkoreas Grundschulen ist die Welt der Mathematik noch in Ordnung. Bei uns weniger. Foto: Tuojia Elementary School (CC BY-NC-SA 2.0)

Nach einem Aufwärtstrend seit dem «PISA-Schock» vor 15 Jahren ist das ein Dämpfer: Die Grundschüler der vierten Klasse rutschen im Ranking der breit angelegten TIMSS-Studie in Mathematik ab, in den Naturwissenschaften kommen sie auch nicht so recht voran. Und alle Baustellen der deutschen Bildungspolitik bleiben: zu viele «Risikoschüler», zu wenige Überflieger, erhebliche Probleme für Migrantenkinder, ein besorgniserregender Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. «TIMSS 2015» als schlechtes Omen für die PISA-Noten? Vor deren Präsentation darf gezittert werden.

TIMSS («Trends in International Mathematics and Science Study») ist international angelegt und gilt – wie die bekanntere PISA-Studie der OECD – als sehr aussagekräftig. Gut 300 000 Grundschüler aus über 50 Staaten und Regionen ließen sich für «TIMSS 2015» testen, zudem gaben 250 000 Eltern, 20 000 Lehrer und 10 000 Schulleiter Auskünfte. In Deutschland nahmen rund 4000 Viertklässler an 200 Schulen teil.

Die wichtigsten Ergebnisse der Vergleichsstudie im Überblick:

DEUTSCHE MATHE-MUFFEL: Mit diesem wichtigen Unterrichtsfach tun sich die Grundschüler schwer. Während osteuropäische Länder wie Ungarn, Tschechien oder Slowenien – ganz abgesehen von Russland als großer Schachspieler-Nation – teils riesige Fortschritte machten, rutschte Deutschland nun unter das Test-Level der EU und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Fast jeder vierte deutsche Viertklässler schaffte nicht einmal die dritte von fünf Kompetenzstufen. «Diese Kinder beherrschen gerade mal die Grundrechenarten», sagte der deutsche TIMSS-Chef Professor Wilfried Bos am Dienstag. Nur gut jeder Zwanzigste erreichte Top-Niveau.

NOTE DREI IN PHYSIK UND CHEMIE: In den Naturwissenschaften verharrten die TIMSS-Leistungen der deutschen Viertklässler auf dem Niveau der Vorgängerstudien – eine Stagnation im gehobenen Mittelmaß, haarscharf über den Werten von EU und OECD. Aber auch hier zogen Länder wie Slowenien oder Schweden innerhalb von acht Jahren vorbei. Zwar stieg die Quote der Spitzenschüler leicht an, sie war aber gegenüber Ländern wie Schweden oder Russland sehr niedrig. Und zieht man «TIMSS 2007» zum Vergleich heran, ging es bei der Topschüler-Quote in Naturwissenschaften insgesamt sogar bergab.

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SOZIALE SCHERE: Die seit «PISA 2000» beklagte enge Verbindung von sozialem Hintergrund und Bildungschancen bleibt leider bestehen. Die TIMSS-Experten hatten zur Erforschung nicht nur nach dem Berufs- oder Ausbildungsstand der Eltern gefragt, sondern auch nach der Anzahl von Büchern pro Haushalt. Das Ergebnis: ernüchternd. Schüler mit mehr als 100 Büchern daheim haben gut ein Lernjahr Leistungsvorsprung. In den meisten EU-Ländern sind die Nachteile von Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern geringer. Das Fazit ist kein Ruhmesblatt: «In Deutschland hat sich das Ausmaß sozial bedingter Leistungsdisparitäten seit TIMSS 2007 nicht signifikant verändert.»

MALUS FÜR MIGRANTENKINDER: Dieser Befund tut weh: Obwohl sich Grundschüler, von denen ein oder zwei Elternteile im Ausland geboren wurden, im Test verbessern, haben sie in Deutschland weiterhin große Rückstände. Der Leistungsvorsprung von Kindern mit hierzulande geborenen Eltern betrug in Mathematik 31 Punkte – das entspricht fast dem Lernerfolg eines Schuljahres. In den Naturwissenschaften gab es sogar 47 Punkte Differenz. Die deutsche Schülerschaft war 2015 vielfältiger und damit komplizierter als bei früheren Tests. Auch damit lasse sich das mäßige Gesamtergebnis wohl ein Stück weit erklären, meint der Dortmunder TIMSS-Forscher Bos.

MÄDCHEN HOLEN AUF: In Mathematik und Naturwissenschaften ging der für diese Fächer lange gewohnte Leistungsvorsprung von Jungen gegenüber Mädchen zurück. Ob damit aber schon die von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gern beschworene Begeisterung der Mädchen für die MINT-Fächer ausbricht? Ganz so rosig ist es dann doch nicht. Die Angleichung lag an den Jungen, die sich verschlechterten, während ihre Mitschülerinnen die Leistungswerte hielten oder leicht verbesserten.

GLAS HALB VOLL : So sieht es zumindest die Kultusministerkonferenz (KMK) der für Schulbildung in Deutschland zuständigen 16 Länder. «Die Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland erreichen erneut ihr Kompetenzniveau von 2007, das im internationalen Vergleich im mittleren Bereich liegt. Dies gelingt trotz einer zunehmend heterogenen Schülerschaft.» KMK-Präsidentin Claudia Bogedan tröstet über durchwachsene Leistungen mit dem Hinweis auf ein gutes Lernklima hinweg: «Den Unterricht in Mathematik und in den Naturwissenschaften bewerten die Schülerinnen und Schüler positiv.»

GLAS HALB LEER : Dem «TIMSS-Papst» Bos wird etwas bang, wenn er an den Übergang schwacher Grundschüler auf die weiterführende Schule denkt: «Mathematisches Lernen in der Sekundarstufe I wird dieser Schülergruppe erhebliche Schwierigkeiten bereiten.» Falls das so weitergehe, «muss man in Deutschland Angst haben, abgehängt zu werden». Zu weniger Reformeifer gebe TIMSS jedenfalls keinen Anlass. Auch die KMK räumt ein: «Die Studie zeigt, dass wir sowohl am unteren als auch am oberen Ende des Leistungsspektrums ansetzen müssen.»

UND JETZT PISA: Ob es beim OECD-Test 2015 für die 15-Jährigen ähnlich mittelmäßige Leistungen gegeben hat, wird sich bei der Vorstellung der Ergebnisse am 6. Dezember zeigen. PISA-Koordinator Andreas Schleicher sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Es gibt keinen Grund, warum Deutschland sich nicht an den leistungsstärksten europäischen Bildungssystemen orientieren sollte.» Aber auch er warnt vor einer verringerten Dynamik im deutschen Bildungssystem. Von Werner Herpell, dpa

Au weia: Deutschlands Grundschüler schmieren in Mathe ab – Lesen Sie die wichtigsten Informationen zum TIMSS-Schock!

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xxx
7 Jahre zuvor

Ich habe Angst vor einer nicht weiter verringerten und noch mehr Angst vor einer weiter beschleunigten Dynamik im deutschen Bildungssystem. Es riecht nach noch mehr Tests, noch mehr Reformen und noch weniger Fachwissen.

Pälzer
7 Jahre zuvor

Die Verschlechterung kam ja in dem Zeitraum, in dem alle Bundesländer im großen Stil reformiert, gefördert und Schulstrukturen verändert haben. Man könnte daraus schließen, dass die Anstrengungen vielleicht gar nichts verbesserten, sondern verschlechterten. Aber auch die Annahme, die Kinder-Gesamtheit sei gegenüber früher unverändert, stimmt ja nicht. Es gibt mehr belastete, von inkompetenten Eltern (nicht) erzogene Kinder. Die Geburtenzahlen legen nahe, dass die Akademiker kaum noch Kinder zeugen – warum untersucht das niemand?

Cavalieri
5 Jahre zuvor

„PISA-Koordinator Andreas Schleicher sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Es gibt keinen Grund, warum Deutschland sich nicht an den leistungsstärksten europäischen Bildungssystemen orientieren sollte.»“
Den gibt es in der Tat nicht, da hat Schleicher Recht. Aber die Betonung liegt auf „europäischen“. Und so gesehen ist das ewige Mäkeln von Schleicher am deutschen Bildungssystem ungerechtfertigt. Bei PISA 2015 lagen bei den Mittelwerten in Mathematik nur drei europäische Länder signifikant (mehr als 5 Punkte) vor Deutschland: Schweiz, Estland, Niederlande. Die großen und wichtigen Länder dagegen lagen alle hinter Deutschland, z.T. katastrophal weit: Schweden, Frankreich, GB, Italien, Spanien, auch die USA. Das im obigen Artikel gerühmte Ungarn lag um 29 Punkte hinter Deutschland. die gerühmte klassische math. Kulturnation Griechenland um 52 Punkte.
Auch bei der Leistungsspitze sieht es nicht schlecht aus: Die ragt nur bei der Schweiz sowie Belgien und den Niederlanden etwas über die von Deutschland hinaus. Polen, Estland und Slowenien waren gleichauf, aber Schweden und Finnland hatten eine schwächere Leistungsspitze, alle anderen europäischen Länder auch, Griechenland ganz katastrophal. Am unteren Ende der Skala bei den Schwachen war es uneinheitlich. Aber F und GB waren sowohl bei der Leistungsspitze wie bei den Schwachen schlechter als Deutschland. Das steht alles in Abbildung 6.2 (Seite 231) hier:
https://www.pisa.tum.de/fileadmin/w00bgi/www/Berichtsbaende_und_Zusammenfassungungen/PISA_2015_eBook.pdf
Also, Herr Schleicher, was gibt’s zu meckern? Meckern Sie doch mal über Frankreich und England!