Kommt mit G9 das Wohlfühl-Gymnasium? Meidinger warnt vor falschen Erwartungen: „Schule ohne Stress ist eine schlechte Lebensvorbereitung“

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BERLIN. Die Gymnasien in Deutschland erleben derzeit eine atemberaubende schulpolitische Wende: Erst galt die Schulzeitverkürzung bis zum Abitur, das sogenannte G8, als das  Nonplusultra. Jetzt hat sich der Wind gedreht, und die meisten Bundesländer drehen die Reform weitgehend zurück. Der Erwartung, damit werde das Gymnasium zu einer Wohlfühloase, tritt allerdings nun Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands, entgegen. Er meint: „Die Härte, mit zeitlich begrenztem Leistungsdruck umzugehen, sind nicht nur in der Schule, sondern auch im späteren Leben eminent wichtig.“

Das Interview ist Teil des News4teachers-Schwerpunktes zur Bildungsmesse didacta, auf der Meidinger als Referent zu erleben ist.

Hier geht es zum „Teacher’s Guide“ von News4teachers zur Bildungsmesse „didacta“.

Englisch-Unterricht frühestens ab Klasse 3: Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Foto: Deutscher Philologenverband
Sieht Eltern im Stress: Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Foto: Deutscher Philologenverband

Herr Meidinger, seit der Einführung von G8 klagen viele Schüler über eine stärkere Belastung und „Schulstress“. Halten Sie das für berechtigt?

Meidinger: Ja und nein. Einerseits ist es durch die Schulzeitverkürzung tatsächlich zu einer Verdichtung des Schulstoffs und auch des Schulalltags – beispielsweise durch den verstärkten Nachmittagsunterricht – gekommen, was dazu geführt hat, dass Schülerinnen und Schüler im G8 weniger Freiräume haben. Das trifft insbesondere jene, die Schule sehr ernst nehmen. Andererseits habe ich das Gefühl, dass jedes schulische Problem mittlerweile dem G8 zugeschoben wird, häufig auch zu unrecht.

Ist der Schulstress neben G8 auch durch andere Faktoren zu begründen, wie zum Beispiel gestiegene Anforderungen und einen höheren Leistungsdruck durch Vergleichsarbeiten, PISA etc.?

Meidinger: Schulstress, also Zeitdruck, gehört zur Schule, seit es diese Institution gibt. Zum Teil ist er „hausgemacht“, weil man zum Beispiel als Schüler nicht rechtzeitig angefangen hat, für die nächste Klausur zu lernen, weil es an der richtigen Lernstrategie fehlt oder auch, weil man trotz Schule nicht auf das ein oder andere Hobby oder Freizeitvergnügen verzichten will. Viele Jugendliche setzen sich selbst unter Druck, etwa aufgrund übergroßen Ehrgeizes. Oft entsteht aber Schulstress auch durch überzogene Erwartungen der Eltern oder auch dadurch, dass Kinder an einer bestimmten Schulart überfordert sind. Während Eltern früher zufrieden waren, wenn ihre Sprösslinge das Klassenziel bzw. den Abschluss erreichten, glauben viele heute, dass in der modernen Wettbewerbsgesellschaft für den späteren Lebenserfolg möglichst gute Noten nötig sind, beispielsweise ein sehr guter Abiturschnitt. Diese Erwartungshaltung erzeugt Dauerdruck. Dass in der Schule die Anforderungen in den Prüfungen generell gestiegen sind, bezweifle ich. Zwar gibt es mehr landes- und bundesweite Vergleichsarbeiten, gleichzeitig wurde aber in vielen Bundesländern die Zahl der Schulaufgaben, Klausuren und Hausaufgaben in den letzten 20 Jahren abgesenkt.

Wie viel Schulstress „vertragen“ Schülerinnen und Schüler?

Meidinger: Eine gewisse Stressbewältigungskompetenz gehört letztlich zu den Fähigkeiten, die man für erfolgreiche Bildungsverläufe braucht. Das soll kein Argument dafür sein, Schüler unkontrolliert durch Hausaufgaben, steigende Leistungsanforderungen und dichte Klausurenpläne zu belasten. Aber die Fähigkeit, auch mal die ein oder andere Woche vor Abschlussprüfungen durchzulernen, oder die Härte, mit zeitlich begrenztem Leistungsdruck umzugehen, sind nicht nur in der Schule, sondern auch im späteren Leben eminent wichtig. Ich glaube, dass ein Grund für so manchen Studienabbruch darin besteht, dass viele Studierende in der Schule bzw. in ihrem bisherigen Leben nicht gelernt haben, mit Stress und Misserfolg umzugehen. Eine Schule völlig ohne Druck und Stress wäre eine denkbar schlechte Studien-, Berufs- und Lebensvorbereitung.

Sie sind selbst Lehrer und Schulleiter: Können Sie den Eindruck eines steigenden Schulstresses für Schüler – vielleicht auch für Eltern und Lehrkräfte – bestätigen?

Meidinger: Es gibt Anzeichen dafür, dass in einer bestimmten Bevölkerungsschicht, der bildungsaffinen Mittelschicht, die Angst vor sozialem Abstieg gestiegen ist. Und diese Angst wird dann als Druck auf die eigenen Kinder weitergegeben, im Bildungssystem besser zu sein als andere. Der PISA-Schock hat vor allem dieses soziale Milieu verunsichert. Ich glaube allerdings nicht, dass es allgemein mehr Schulstress gibt. Gerade Abiturientinnen und Abiturienten berichten ja in den Abiturzeitungen gerne rückblickend davon, dass die Schulzeit abgesehen von den paar Wochen vor dem Abitur gar nicht so stressig war, wie behauptet wird.

Auch wenn der Schulstress vielleicht nur in bestimmten Familien zugenommen hat: Müssten Ihrer Meinung nach Maßnahmen getroffen werden, um dieses Phänomen zu reduzieren?

Meidinger: Es gibt kein Patentrezept. Schulleitung und Lehrkräfte haben die Pflicht, auf eine gleichmäßige Stoff-, Hausaufgaben- und Klausurenverteilung zu achten, bei den Schülern ist es wichtig, dass sie über die richtigen Lernstrategien verfügen – an meiner Schule bieten wir Kurse zum „Lernen lernen“ an – und auch die Eltern sollten ihre Kinder nicht mit eigenen Erwartungshaltungen überfordern.

Mit der Einführung von G8 wollte man unter anderem dem demografischen Wandel begegnen und die Jugendlichen früher in das Arbeitsleben bringen, um international konkurrenzfähig zu sein. Welche pädagogischen Argumente sprechen wiederum für bzw. gegen die verkürzte Schulzeit?

Meidinger: Es gibt bis heute kein einziges pädagogisches Argument, das für G8 spricht. Bildung braucht Zeit, Zeit für Üben, Reflektieren, Vertiefen und kritische Auseinandersetzung. Wir müssen unseren Kindern angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen eher mehr Zeit zum Lernen und Reifen bieten als weniger. Letztendlich war es das finanzielle Einsparungspotenzial, das seinerzeit die Finanzminister der Länder und die Ministerpräsidenten zur gymnasialen Schulzeitverkürzung verleitet hat. Das war aber kurzfristig gedacht. Die Qualität unserer Abiturienten ist zehnmal wichtiger als die Frage, ob sie ein Jahr jünger oder älter sind.

Hier geht es zum „Teacher’s Guide“ von News4teachers zur Bildungsmesse „didacta“.

Heinz-Peter Meidinger referiert auch auf der didacta 2017 in Stuttgart über Schulstress und Leistungsdruck:

Schule/Hochschule
Forum Bildung
Schulstress: Wie viel Leistungsdruck vertragen unsere Schüler/-innen?
Referenten Heinz-Peter Meidinger (Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands), Dr. Josef Meier (Philologische-Historische Fakultät Universität Augsburg), Ties Rabe (Senator für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg) und Erika Takano-Forck (stellvertretende Vorsitzende des Bundeselternrats)
18. Februar 2017
13:00-14:15 Uhr
Stand: 1H71 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.

Weitere Veranstaltungen auf der „didacta“ zur Schulpolitik:

Forum Bildung
Wie verbessern wir die Qualität unserer Schulen?
Referenten: Doro Moritz (Vorsitzende GEW Baden-Württemberg), Gerda Windey (Ministerialdirektorin im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg) und Carolin Schaper (Lehrerin, Lehrerbildnerin, Schulberaterin und Autorin)
18. Februar 2017
11:30-12:45 Uhr
Stand: 1H71 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.

 

Forum didacta aktuell
Leistungsstarke Kinder – wo bleiben sie?
Darüber diskutieren:
•Dr. Susanne Eisenmann, Kultusministerin von Baden-Württemberg
•Monika Greschuchna, Schulleiterin aus dem Saarland
•Stefan Küpper, SCHULEWIRTSCHAFT Baden-Württemberg
•Prof. Dr. Manfred Prenzel, School of Education an der TU München
•Moderation: Dr. Donate Kluxen-Pyta, BDA, Berlin

15. Februar 2017
11.00 – 11.45 Uhr
Veranstalter: BDA | Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

 

Forum didacta aktuell
Bildung im Transformationsprozess des 21. Jahrhunderts. Wie reagiert die bayerische Bildungspolitik auf die Anforderungen an Schule und Gesellschaft?
Bayerns Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle im Gespräch mit Prof. Dr. Wassilios E. Fthenakis, Präsident Didacta Verband der Bildungswirtschaft
16. Februar 2017
13.00 – 13.45 Uhr
Veranstalter: Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst | Didacta Verband e. V.

 

Berufliche Bildung/Qualifikation
Forum Berufliche Bildung
Fit für den Beruf: Schule im Zeitalter der Digitalisierung
Referenten: Dr. Susanne Eisenmann (Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg), Michael Futterer (GEW-Landesverband Baden-Württemberg), OStD Eugen Straubinger (Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen e. V.) und Rainer Lupschina (Friedrich-List-Gymnasium Reutlingen)
15. Februar 2017
12:15 – 13:15 Uhr
Stand: 6D32 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Didacta Verband e. V. / Verband Bildungsmedien e. V.

 

Forum Berufliche Bildung
Von der industriellen zur emotionalen Didaktik. Warum Google nur die zweitbeste Lernkultur der Welt hat
Michael Kobbeloer, Leiter der Fachschule für Sozialpädagogik Uelzen
17. Februar 2017
11:30 – 12:00 Uhr
Halle 6, D32
Veranstalter: Didacta Verband e. V. / Verband Bildungsmedien e. V.

Weitere Informationen zu den Veranstaltungen der didacta finden Sie unter www.didacta-stuttgart.de/programm.

 

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3 Kommentare
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xxx
7 Jahre zuvor

Die Qualität der Abiturienten kann man entscheidend verbessern, indem man zumindest am Gymnasium die Anforderungen derart erhöht, dass nur noch die besten 30% eines Jahrgangs und nicht mehr mindestens 50% eines Jahrgangs überhaupt dazu in der Lage sind, die Prüfungen zu bestehen. Gleichzeitig würde das Handwerk den dringend benötigten Azubi-Nachwuchs bekommen und die soziale Schichtung an Realschulen würde sich erheblich verbessern

Das würde allerdings die Existenz diverser kleinerer Gymnasien gefährden und diverse Eltern (= Wähler) würden auf die Palmen gehen. Daher werden die Anforderungen eher noch weiter gesenkt.

Axel von Lintig
7 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Das gilt aber im selben Maße auch für die Grundschulen.Die Leistungsansprüche sind in NRW derart herabgesetzt worden, dass die Schüler in den nachfolgenden Jahren sehr viel nachholen müssen.
Wir brauchen in den Grundschulen in den ersten zwei Jahren die zielgerichtete , strukturierte Vermittlung des Schriftspracherwerbs.
Dieser Unsinn vom eigenständigen,rein Laut orientierten und eigen initiativen Lernen in den ersten zwei Grundschuljahren verhindert, dass die Schüler zügig zum eigenständigen Schreiben gelangen. Das hängt vielen noch bis zum Studium nach. Herr Kruck , ehemaliger Lektor der Ruhr Uni Bochum ist nicht der einzige, der einen derart starken Leistungsabfall heutiger Studenten in Orthographie und im Ausdrucksvermögen von NRW Studenten beklagt. Das gleiche gilt für die Feuerwehr, das Handwerk und die Polizei und im Pflegedienst. Bei der NRW Polizei wurden in diesem Jahr nicht mehr genügend qualifizierte Bewerber gefunden, welche ausreichende Kenntnisse im Schriftspracherwerb hatten und obwohl es alles Schulabsolventen von Gymnasien waren. Bei der Feuerwehr sind die Anforderungen inzwischen abgesenkt worden. In der Krankenpflegeschule Soest liegt die Durchfallrate bei Krankenpflegeschülerinnen mit einem Hauptschulabschluss bei 80 %.
Es ist für mich überhaupt nicht verständlich warum die Politik nicht auf derartige Hilferufe reagiert.

Bernhard Färber
7 Jahre zuvor

Es fällt auf, dass alle Schulminister/innen (in deren Bundesländern eine Rückkehr oder Teilrückkehr zu G9 ansteht) nicht müde werden, zu beteuern, dass eine Rückkehr zum G9 nicht dazu führen wedre und dürfe, dass dann die Lehrpläne samt Niveau wieder (nach oben) angepasst werden. Immerhin sind diese bei der Einführung von G8 und auch danach noch mehrere Male gekürzt worden.
Wenn das aber so ist, mehr Zeit für die gleichen Inhalte, dann ist der Weg zum Wohlfühlgymnasium, das jeder schafft, nicht mehr weit.

Mich wundert, dass bei dieser Erleichterungspädagogik auch die Unionsminister (Spaenle, Lorz) mitmachen.