Kretschmann zum Abschmieren des Ländles im IQB-Ländervergleich: „Es ist eine große Herausforderung, einen langjährigen Trend umzukehren“

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STUTTGART. Vom Musterschüler zum Verlierer – der Fall Baden-Württembergs im Bildungsranking der IQB-Studie ist tief. In den Fächern Deutsch und Englisch lag das Ländle 2009 bezogen auf die Kompetenzen der Neuntklässler noch in der Spitzengruppe der Bundesländer; im Jahr 2015 war der Südwesten in Deutsch auf hintere Ränge abgerutscht. In Englisch verbesserten sich die Leistungen zwar, aber geringer als in allen anderen Ländern. Jetzt ist Baden-Württemberg Gastgeber von Europas größter Bildungsmesse, der „didacta“. Anlass mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ein Interview zur Bildungspolitik zu führen.

"Sehr ernüchternde Ergebnisse": Ministerpräsident Kretschmann im Interview. Foto: didacta
„Sehr ernüchternde Ergebnisse“: Ministerpräsident Kretschmann im Interview. Foto: didacta

Herr Ministerpräsident, über viele Jahrzehnte galt Baden-Württemberg als „Musterländle“ was die schulische Bildung angeht. Jetzt titelte der „Spiegel“ angesichts der IQB-Ländervergleichsstudie: „Baden-Württemberg schmiert ab“. Wie steht es um die Schulen in Baden-Württemberg?

Kretschmann: Der aktuelle IQB-Bildungstrend hat für Baden-Württemberg tatsächlich sehr ernüchternde Ergebnisse gebracht. Allerdings hat sich meine Regierung schon in den Koalitionsverhandlungen auf die Verbesserung der Unterrichtsqualität als eine ihrer Hauptaufgaben geeinigt. Wir werden also die Ergebnisse der Studie und deren mögliche Ursachen sorgfältig prüfen und dabei insbesondere auch Expertise aus der Wissenschaft einholen. Und wir müssen natürlich genau hinschauen: Wie haben andere Länder, die einen großen Sprung nach vorne gemacht haben, in den letzten sechs Jahren gearbeitet? Dann werden wir entscheiden, wo und wie wir handeln. Jeder sollte sich aber bewusst sein, dass bildungspolitische Maßnahmen sehr lange Wirkungszeiten haben. Es ist eine große Herausforderung, einen langjährigen Trend umzukehren! Die in der IQB-Studie getesteten Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse etwa waren von den bildungspolitischen Maßnahmen der vergangenen Legislatur, wie etwa der Einführung der Gemeinschaftsschule, der Abschaffung der Grundschulempfehlung oder der neuen Bildungspläne, ja noch gar nicht betroffen.

Eine der großen bildungspolitischen Herausforderungen für Land und Kommunen ist die Inklusion. Wo steht Baden-Württemberg bei diesem Thema?

Kretschmann: Wir haben die Inklusion hierzulande endlich gesetzlich verankert und sind damit im Schuljahr 2015/2016 gestartet. Davor waren bereits die Gemeinschaftsschulen inklusive Schulen und wir hatten auch einen gewissen Vorlauf durch einen Modellversuch. Mit dem Inklusionsgesetz haben wir die Pflicht zum Besuch einer Sonderschule abgeschafft und den Eltern ein qualifiziertes Wahlrecht gegeben. Wir ermöglichen die Inklusion in Gruppenlösungen, die über Bildungswegekonferenzen (siehe Infokasten) gesteuert werden. Deshalb haben die Eltern das Recht auf eine Regelschule, aber nicht auf eine ganz bestimmte Schule. Damit können wir die Versorgung mit Sonderpädagogen und Schulbegleitung sicherstellen. Und meine Landesregierung sorgt dafür, dass sich die Kosten der Kommunen, die wir über ein Gesetz zum Ausgleich kommunaler Aufwendungen für die Inklusion zusätzlich unterstützen, wirklich im Rahmen halten. Aktuell macht mir allerdings der Mangel an Sonderpädagogen zu schaffen.

Uns ist klar, dass der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems ein anspruchsvoller Prozess ist, der die Schulen und auch die Schulverwaltung noch viele Jahre begleiten wird. Inklusive Bildungsangebote sollen trotzdem ganz selbstverständlicher Bestandteil des Schulangebots in Baden-Württemberg werden.

2014 haben Sie zwei zentrale Ziele Ihrer Regierung benannt: „Qualitativ hochwertige und leistungsstarke Schulen in der Fläche des Landes zu erhalten sowie den Bildungserfolg der Schüler von ihrer sozialen Herkunft zu entkoppeln.“ Was haben Sie bisher erreicht – und welche Schritte müssen jetzt noch folgen?

Kretschmann: Mit den Gemeinschaftsschulen haben wir eine Schulform ermöglicht, in der Kinder ganz individuell gefördert werden – und zwar auf allen drei Niveaustufen. Sie sind gebundene Ganztagsschulen, damit auch Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern die notwendige Unterstützung in der Schule erhalten. Die Eltern sind dabei durch regelmäßigen Austausch mit der Schule eng in die Lernentwicklung ihrer Kinder eingebunden und die neue Schulform wurde gut angenommen: Zum Schuljahr 2016/2017 sind 299 Gemeinschaftsschulen eingerichtet und tragen zur Stärkung von Schulstandorten in der Fläche bei. Doch wir haben natürlich nicht nur die Gemeinschaftsschulen im Blick. Aktuell sind wir dabei, den Realschulen zusätzliche Stunden zu geben, damit sie der Heterogenität ihrer Schülerschaft besser gerecht werden können.

Die Entkoppelung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft ist angesichts der steigenden Zahl von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ein ganz wichtiges Ziel – und auch dieses Ziel erfordert genaue Unterstützungsmaßnahmen von Seiten der Landesregierung. Wir können und wollen niemanden zurücklassen!

Europas größte Bildungsmesse didacta ist in Stuttgart zu Gast. Mit welchen Worten möchten Sie Lehrkräfte aus Baden-Württemberg und den angrenzenden Bundesländern zum Messebesuch einladen?

Kretschmann: In einer sich verändernden Gesellschaft steht der Bildungsbereich vor Aufgaben, die eine neue Herangehensweise erfordern. Das Thema Digitalisierung etwa, das auch in den Schulen Einzug hält, haben wir hier ja noch gar nicht angesprochen. Die didacta ist ein großer Marktplatz mit einem enormen Angebot, auf dem sich alle im Bildungsbereich Beschäftigten – insbesondere aber die Lehrkräfte – sehr gut informieren und neue Anregungen holen können. Die vielen Veranstaltungen bieten auch ein Forum für den Austausch untereinander sowie mit anderen Akteuren im Bildungsbereich. Es lohnt sich also, zur didacta nach Stuttgart zu kommen.

Hier geht es zum News4teachers Guide für die didacta 2017.

Über Bildungspolitik in Baden-Württemberg spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann auch am 17. Februar auf der didacta-Bildungsmesse 2017 in Stuttgart:

Bildungskongress der Kommunalen Landesverbände
„Bildung auf Draht – Digitalisierung der Schulen“
Referenten: Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Landtagspräsidentin Muhterem Aras, Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann sowie die Landtagsfraktionsvorsitzenden Andreas Schwarz, Prof. Dr. Wolfgang Reinhart, Andreas Stoch und Dr. Hans-Ulrich Rülke
17. Februar 2017
10:00 – 18:00 Uhr
ICS, Raum C1.1
Veranstalter: Städtetag, Landkreistag und Gemeindetag Baden-Württemberg in Kooperation mit dem didacta Verband der Bildungswirtschaft und der Messe Stuttgart

Weitere bildungspolitische Veranstaltungen auf der didacta:

Schule/Hochschule
Forum Bildung
Schule der Zukunft – Zukunft der Schule: Schulentwicklung in Baden-Württemberg
Dr. Susanne Eisenmann (Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg)
14. Februar 2017
14:30 – 15:45 Uhr
Stand: 1H71 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.

Forum Bildung
Wohin mit der Gemeinschaftsschule?
Referenten: Sandra Boser (Bildungs-, Schulpol. Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag Baden-Württemberg), Dr. Stefan Fulst-Blei (Bildungs-, Schulpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag Baden-Württemberg), Dr. Timm Kern (Bildungs-, Schulpolitischer Sprecher der Fraktion FDP/DVP im Landtag Baden-Württemberg) und Karl-Wilhelm Röhm (Schulpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag Baden-Württemberg)
15. Februar 2017
10:30 – 11:45 Uhr
Stand: 1H71 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.

Forum didacta aktuell
Blühende Bildungslandschaften – Wie die Vernetzung von Schule und außerschulischen Lernorten vorankommt
Darüber diskutieren:
Prof. Dr. Wassilios E. Fthenakis, Präsident des Didacta Verbandes der Bildungswirtschaft
Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung sowie stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen
Volker Schebesta, Staatssekretär im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg
Moderation: Jan Hofer, ZDF
15. Februar 2017
14.00 – 14.45 Uhr
Veranstalter: Didacta Verband e. V.

Forum didacta aktuell
Schulentwicklungsland Deutschland?
Darüber diskutieren:
Verena Appelshäuser, Grundschule Lambrecht
Prof. Dr. Monika Buhl, Universität Heidelberg
Claudia Rugart, Regierungspräsidium Stuttgart
Moderation: Jan Hofer, ZDF
17. Februar 2017
14.00 – 14.45 Uhr
Veranstalter: Didacta Verband e. V.

Berufliche Bildung/Qualifikation
Forum Berufliche Bildung
Fit für den Beruf: Schule im Zeitalter der Digitalisierung
Referenten: Dr. Susanne Eisenmann (Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg), Michael Futterer (GEW-Landesverband Baden-Württemberg), OStD Eugen Straubinger (Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen e. V.) und Rainer Lupschina (Friedrich-List-Gymnasium Reutlingen).
15. Februar 2017
12:15 – 13:15 Uhr
Stand: 6D32 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Didacta Verband e. V. / Verband Bildungsmedien e. V.

Weitere Informationen zu den Veranstaltungen der didacta finden Sie unter www.didacta-stuttgart.de/programm.

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