Lehrergewerkschafter müssen aus der Erdogan-Türkei fliehen – GEW warnt: Verfolgung setzt sich in Deutschland fort

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ISTANBUL. Die Verhaftung des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel – und der bizarre Vorwurf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der Journalist sei ein kurdischer Aktivist und „deutscher Agent“ – haben schlaglichtartig das Ende von Pressefreiheit und Rechtstaatlichkeit in der Türkei erkennen lassen. Mehr als hundert Journalisten sitzen in türkischen Gefängnissen. Wie brutal das Regime vorgeht, um das Land in eine islamistische Autokratie zu verwandeln, lässt sich auch an den Schulen beobachten: Zehntausende Lehrkräfte wurden nach dem gescheiterten Putschversuch entlassen. Die Generalsekretärin der türkischen Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen, Sakine Yilmaz, musste laut GEW nach Deutschland fliehen – sie hat politisches Asyl beantragt.

Unterstützer von Präsident Erdogan in Istanbul nach dem gescheiterten Putschversuch. Foto: Mstyslav Chernov / flickr (CC BY-SA 4.0)
Unterstützer von Präsident Erdogan in Istanbul nach dem gescheiterten Putschversuch. Foto: Mstyslav Chernov / flickr (CC BY-SA 4.0)

Anfang September hatte die türkische Regierung fast 12.000 Lehrkräfte in den Kurdenregionen vom Dienst suspendiert – mehrheitlich Mitglieder der laizistischen Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen, einer Schwestergewerkschaft der GEW, die der AKP-Regierung kritisch gegenüber steht und deshalb schon länger mit Repressalien und Kriminalisierung bedroht wird. Das war bereits die zweite Entlassungswelle nach dem gescheiterten Putschversuch: Unmittelbar danach waren  im Juli bereits rund 20.000 vermeintliche Gülen-Anhänger aus dem Schuldienst entlassen worden, wie die GEW berichtete. Eğitim-Sen spricht sogar von mittlerweile 70.000 entlassenen Lehrkräften in der Türkei.

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In einem jetzt von der bayerischen GEW veröffentlichten Aufruf heißt es: „Wie Kolleginnen und Kollegen aus der Türkei berichten, basieren diese Entlassungen auf Verdacht und Intrigen. Es liege kein gerichtlicher Beschluss für die Entlassungen vor. Die betroffenen Kolleginnen und Kollegen und müssten selber beweisen, dass sie unschuldig sind; ob sie überhaupt bei den zuständigen Instanzen Gehör finden, sei ungewiss. Das widerspricht allen rechtsstaatlichen Prinzipien.“ Proteste von Gewerkschaften würden in der Türkei nicht selten mit brutalem Vorgehen der Polizei beantwortet. Manche Gewerkschafter seien bereits inhaftiert worden, andere flöhen ins Ausland. So lebe die Generalsekretärin von Eğitim-Sen, Sakine Yilmaz, inzwischen in Deutschland und habe einen Antrag auf politisches Asyl gestellt. Sie werde dabei von der GEW unterstützt.

Inzwischen lägen der Gewerkschaft Berichte vor, dass sich die Verfolgung Oppositioneller auch in Deutschland fortsetze und in hiesigen Schulen bereits zu Unfrieden und Angst führe. Dies könne die GEW keinesfalls akzeptieren. Sie fordert die Kultusministerien „zu Wachsamkeit auf, um Diskriminierung und Bedrohung entgegenzusteuern“.

Die GEW-Vorsitzende Marlies Tepe hatte die Maßnahmen gegen Lehrkräfte bereits im vergangenen Herbst scharf kritisiert: „Die Entlassungen sind ausschließlich politisch motiviert und widersprechen jeglichen rechtsstaatlichen Grundsätzen. Die türkische Regierung betreibt ihre Politik auf Kosten der Schülerinnen und Schüler. Zehntausende ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer vom Schuldienst zu suspendieren, hat negative Auswirkungen auf den Unterricht und die Qualität der Bildung in der Türkei.“ Die aber sind offenbar von Ankara genau so gewollt.

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Denn mittlerweile hat das Bildungsministerium in Ankara den Entwurf einer Lehrplan-Reform vorgelegt, den Kritiker als „Islamisierung“ bezeichnen. Sichtbarstes Zeichen: Darwin und die Evolution sollen aus den Lehrplänen getilgt werden. Auch wesentliche Informationen zu Atatürk und zum (säkularen) Kemalismus werden den Plänen zufolge entfallen. Dafür soll mehr Platz für Wissenschaftler aus der islamischen Welt eingeräumt werden. Neuer Unterrichtstoff ist auch der 15. Juli, also der Tag, an dem sich die Bevölkerung erfolgreich den Putschisten in den Weg stellte.

Ein Sprecher der Gewerkschaft Eğitim–İş kommentiert das gegenüber dem Deutschlandfunk: „Bewunderung für das Osmanische Reich, statt für die Republik Türkei. Bewunderung für die Sultane, statt für Atatürk und seine Weggefährten. Religiöse Bildung, statt laizistisch-wissenschaftlicher Bildung. Solch ein System schwebt der Regierung im Bildungswesen vor.“ Medienberichten zufolge arbeitet das Bildungsministerium sogar auch daran, den Dschihad – den Heiligen Krieg – in den Lehrplan für die 7. Klasse aufzunehmen. Zudem würden in neuen Religionsbüchern Säkularismus, Wiedergeburt und Atheismus als „problematische Überzeugungen“, sogar „Krankheiten“ bezeichnet.

„Musste mit meiner Verhaftung rechnen“

„Als Gewerkschafterin musste ich mit meiner Verhaftung rechnen und habe mein Haus, meine Arbeit und meine Familie in der Türkei zurückgelassen. Nun versuche ich, in Deutschland mein Leben neu zu organisieren. Seit drei Monaten lebe ich mit einem Rucksack in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften“, so berichtete Sakine Yilmaz im Dezember in einem Blog-Beitrag für die GEW.

Yilmaz fordert darin zum Widerstand gegen Ankara auf. Sie schreibt: „Es braucht eine ernsthafte Solidarität mit den Kämpferinnen und Kämpfern gegen das AKP-Regime, das immer mehr faschistische Züge trägt. Die Gewerkschaften, und besonders die GEW, haben richtige und wichtige Schritte gemacht. Wenn diese Schritte sich vermehren, können sie große politische Wirkung haben“. Agentur für Bildungsjournalismus

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Ignaz Wrobel
7 Jahre zuvor

Reisende meidet die Türkei.Es ist ein Land der politischen Willkür und Repression für anders Denkende geworden. Ein Urlaubsboykott der Türkey ist ein wirksames Mittel, um dem absolutistischen Machthaber Erdogan seine Grenzen aufzuzeigen. wenn der wirtschaftliche Aufschwung ausbleibt, werden seine Anhänger unsicher werden. Es lohnt sich in demokratische Länder zu reisen.
Es lebe die Freiheit der anders Denkenden, es lebe die unabhängige Justiz und die Gewaltenteilung.
Wer Erdogan wählt, der entscheidet sich für die Diktatur.
Uns kann nicht gleichgültig sein, wie sich die Türkey weiter entwickelt.
Wir werden einen neuen Exodus an politisch Verfolgten aus der Türkey mit einer Flucht der Intellektuellen erleben. Denen müssen und werden wir helfen. Sie beherbergen ein großes Potential in sich und sind in der Regel westlichen Werten zugewandt.