Pädagogik-Professorin Jasmund: Kinder in die Verantwortung nehmen – auch schon in der Kita

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DÜSSELDORF. Viele Eltern zeigen sich mit der Erziehung überfordert, anderen ist die deutsche Kultur fremd – zunehmend sind Kitas und Schulen gefordert, Kindern die Grundregeln unseres Sozialverhaltens beizubringen. Wie das Vermitteln der (deutschen) Alltagskultur in einer Kindertagesstätte funktionieren kann, darüber sprachen wir anlässlich des Deutschen Kitaleitungskongresses, der in der kommenden Woche in Düsseldorf stattfindet, mit Prof. Christina Jasmund, Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Hochschule Niederrhein. Brauchen wir einen Knigge für den Kindergarten?

Vor dem Sprung: Kita-Kinder vor der Einschulung.
Vor dem Sprung: Kita-Kinder vor der Einschulung. Foto: Woodleywonderworks / Flickr (CC BY 2.0)

Frau Professor Jasmund, was verstehen Sie unter dem „Erlernen einer Alltagskultur“?

Jasmund: Es geht um die Aspekte des täglichen Zusammenlebens. In jeder Kultur gibt es Manieren und Umgangsformen und es ist wichtig, diese an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Das beginnt schon früh, also bereits wenn Kinder im Kindergarten den Alltag gemeinsam verbringen.

Was ist das „ABC der kleinen (Alltags-)Bildung?“

Jasmund: Es ist allgemein selbstverständlich, dass unsere Kinder ein Recht auf Bildung haben. Was aber ein wenig untergeht ist, dass Kinder auch Fertigkeiten erlernen müssen, also Verhaltensregeln, angefangen beim Leben im Kindergarten. Schon hier können sie lernen, sich selbst zu versorgen und/oder zu bedienen, beispielsweise beim Frühstück oder Mittagessen oder Konflikte selbst zu regeln. Sie können angelernt werden, selber für Ordnung zu sorgen, beispielsweise Tische oder Böden sauber zu halten und natürlich auch einen höflichen Umgang miteinander, eben alle wichtigen Regeln, die bei uns für ein gutes Zusammenleben wichtig sind. Diese sozialen Kompetenzen sind umso wichtiger, wenn eine Gesellschaft immer internationaler wird. Kinder haben auch ein Recht auf Erziehung als wesentlicher Bestandteil unserer Lernkultur, deren Ziel ist es das geltende kulturelle Regelwerk zu internalisieren.

Sie sprechen von „kulturspezifischen Alltagsthemen“ – was ist damit gemeint?

Jasmund: Jede Kultur hat ihre eigene „Kinderstube“, also eigene Regeln, die sie ihrem Nachwuchs beibringt, darunter beispielsweise wie Mahlzeiten gestaltet werden und wie miteinander kommuniziert wird. In den Kitas treffen viele Menschen zusammen, die ganz unterschiedliche Regeln zuhause leben. Dadurch entsteht in jeder Kita zwangläufig ein „kleiner interkultureller Dialog“, denn jedes Kind bringt eigene Gewohnheiten mit in die Gruppe ein, beispielsweise beim Essen, durch seine Kleidung, aber auch in Form von Tischsprüchen oder Liedern. So bildet sich eine einrichtungsspezifische Alltagskultur heraus. Also eine Art, wie Rituale, Regeln und Abläufe gemeinsam in der Einrichtung gelebt werden.

Sie empfehlen: Selbständig werden durch „Ämter“ und „Meisterbriefe“ in der Kita – funktioniert das in der Praxis?

Jasmund: In der Praxis kennen wir das als grundlegenden Bestandteil unserer frühpädagogischen Ansätze von Maria Montessori mit dem Motto: „Hilf mir es selbst zu tun!“, ebenso bei Celestin Freinets Werkstattansatz und in der Waldorfpädagogik Rudolf Steiners, in der Kinder ausdrücklich an allen alltäglichen Abläufen zu beteiligen sind wie Brot backen, Gartenarbeit usw. Und auch der Situationsansatz und der situationsorientieren Ansatz basieren auf dem ganzheitlichen Lebensweltbezug. Leider wurde mit den Bildungsbereichen die Aufmerksamkeit neu ausgerichtet und öffentliche und auch elterliche Erwartungen eher auf den Erwerb von Wissen und schulvorbereitenden Kulturtechniken gelenkt.

Kinder sollen lernen: Leben in der Gemeinschaft bedeutet immer auch, dass Einzelne Aufgaben übernehmen, also neben vielen Rechten gibt es auch Pflichten! Tatsache ist, dass immer mehr Kinder gar nicht mehr „mitbekommen“, dass es viele Aufgaben zu erledigen gibt: Beide Elternteile gehen arbeiten, sie verbringen den Tag in der Kita, wenn sie nach Hause kommen, war bereits jemand da und hat die Wohnung geputzt und das Tier versorgt. Hier möchte ich ansetzen. Es ist wichtig, dass die Kinder lernen: Gemeinschaft bedeutet auch, die Aufgaben sind verteilt und jemand kümmert sich verlässlich um sie– sonst funktioniert es nicht. Die Kinder können also selbstständig werden, sie können eigene Aufgaben übernehmen, beispielsweise bei den Mahlzeiten oder beim Aufräumen. Indem in einer Kita „Meisterbriefe“ verteilt werden, werden soziales Verhalten und Selbstbewusstsein gestärkt, denn jedes Kind, das gut seine Aufgabe erfüllt, wird durch die Anerkennung zu einem Vorbild für die anderen Kinder. So lernen die Kinder Anerkennung und soziales Verhalten.

Warum ist das heute in Kitas wichtig, hat sich etwas verändert?

Jasmund: Ich glaube, dass seit PISA das Bildungsverständnis sehr stark auf WISSEN ausgerichtet wurde und das KÖNNEN im Alltag etwas aus dem Blick geraten ist. Kinder wollen ja groß sein, also warum nutzen wir das nicht und lassen sie sinnvolle und nützliche Aufgaben erledigen. Die pädagogischen Fachkräfte sollten in der oft stressigen Alltagsroutine wertvolle Schlüsselsituationen identifizieren und diese an Kinder weitergeben. Es ist wichtig, dass Kinder lernen sich richtig die Hände zu waschen, ein Tempo zu benutzen, ihre Garderobe in Ordnung zu halten – und zwar selbstständig. Es kann nicht sein, dass Erzieherinnen Tische abwischen, Garderoben fegen und Handtücher falten.

War früher etwas besser, gab es mehr „Disziplin“?

Jasmund: Um Disziplin geht es nicht, aber beispielsweise um die Höflichkeit, an eine geschlossene Tür anzuklopfen, ein Gespräch nicht zu unterbrechen, abzuwarten bis alles fertig sind, bevor jemand den Tisch verlässt. Wir alle möchten, dass unsere Kinder selbstständig und gemeinschaftsfähig werden und ihr Leben aktiv und verantwortungsvoll mitgestalten. Das beginnt mit den kleinen Dingen des Alltags.

Der Deutsche Kitaleitungskongress (DKLK) findet am 25. und 26. April in Düsseldorf statt.

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