Aktionsrat Bildung: Ob Wertewandel, Einwanderung oder Digitalisierung – „Schulen stehen vor epochalen Veränderungen“

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MÜNCHEN. Der digitale Wandel ist in deutschen Schulen noch nicht angekommen – hier besteht dringender Handlungsbedarf seitens der Politik. Das ist das Ergebnis eines neuen Gutachtens renommierter Bildungsforscher, das unter dem Titel „Bildung 2030 – veränderte Welt“ große Entwicklungs- und Wandlungsprozesse der Gesellschaft ausmacht, die das Bildungssystem in den nächsten Jahren nachhaltig beeinflussen werden. 

Deutschland gehört in Sachen IT nicht zur Weltspitze. Illustration: Gerd Altmann / pixelio.de
Deutschland gehört in Sachen IT nicht zur Weltspitze. Illustration: Gerd Altmann / pixelio.de

In dem umfangreichen Werk des Aktionsrates Bildung (in dem 13 Bildungswissenschaftler unter der Leitung des Präsidenten der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, zusammengeschlossen sind) werden dramatische gesellschaftliche Veränderungen identifiziert, die die Kitas, Schulen und Hochschulen in Deutschland zu spüren bekommen. Das beginnt bei der Globalisierung („Es stellt sich insbesondere die Frage, wie Nichtmuttersprachler jeglichen Alters besser integriert werden können“), geht über den Wertewandel („eine Hedonisierung der Lebenskonzepte“) bis hin zum Bedeutungswandel des Religiösen, der durch extrem gegenläufige Bewegungen von gleichzeitig wachsendem Fundamentalismus einerseits und zunehmender Religionsferne andererseits gekennzeichnet sei.

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Einem „möglichen Gefühl der Bedrohung auf Seiten der mehrheitlich christlich geprägten deutschen Gesellschaft steht auf der Seite der Muslime die Einschätzung gegenüber, dass die christliche Gesellschaft nicht in der Lage sei, Moral zu sichern, insbesondere sexuelle Moral. Schon allein dieser Widerspruch erfordert eine Auseinandersetzung im Bildungssystem, und zwar nicht nur im Religionsunterricht.“

Konkret werden werden die Forderungen der Bildungsforscher bei der Digitalisierung: Die Schulen in Deutschland müssen nach Ansicht des Aktionsrats Bildung digitaler werden. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass schon Grundschüler, die einmal pro Woche am Computer arbeiten, deutlich bessere Kompetenzen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften hätten. Deswegen müsse der Einsatz digitaler Lehrmittel bundesweit verstärkt werden. Konstruktiv könne damit allerdings nur gearbeitet werden, wenn auch technisch aufgerüstet werde und digitale Hochgeschwindigkeitsnetze flächendeckend vorhanden seien.

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Im Unterricht müssten Internetphänomene stärker behandelt werden, betonen die Forscher. Schüler sollten demnach lernen, aus „der potenziell unendlichen Informationsflut der digital vernetzten Welt sinnvolles und verwertbares Wissen herauszufiltern“. IT-Kenntnisse sollten außerdem fächerübergreifend an den Hochschulen unterrichtet werden. „Kein Bereich des beruflichen ebenso wie des privaten Lebens wird von der Digitalisierung ausgeschlossen bleiben“, so heißt es zur Begründung in dem Gutachten. „Es wird völlig neue Arbeitsplätze mit hoher „Digital Literacy“-Erwartung geben, ebenso wie eine entsprechende Erwartung in Bezug auf die Berufsausübung in klassischen Berufen. Es muss befürchtet werden, dass hinsichtlich der Entwicklung dieser digitalen Kompetenz, die zunehmend auch eine digitale Souveränität im Sinne der Selbstbestimmung sein muss, für Deutschland ein erheblicher Nachholbedarf besteht.

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Denn: Deutschland sei, was diese Kompetenzen angeht, bestenfalls im Mittelfeld der internationalen Bildungssysteme angesiedelt. „Dazu kommt, dass die Digitalisierung nicht nur die Gegenstände des Unterrichts, sondern das Unterrichthalten als solches betrifft.“ Die Forscher sagen also einen radikalen Wandel der Didaktik voraus.

„Die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung in der schulischen und beruflichen Bildung wird maßgeblich mitbestimmen, ob unsere Unternehmen auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich bleiben“, sagte auch der Präsident der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), Alfred Gaffal. Die vbw finanziert das jährliche Bildungsgutachten. „Damit Schülerinnen und Schüler die aktuellen Wandlungsprozesse in der Bildungs- und Berufswelt erfolgreich meistern können, besteht akuter Handlungsbedarf», betonte Gaffal. „Jetzt müssen Politik, Bildungseinrichtungen, Wirtschaft und Gesellschaft diese wichtigen Fragen gemeinsam in Angriff nehmen.“

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Das Schulsystem stehe deutschlandweit „vor epochalen Veränderungen“, sagte Aktionsrat-Vorsitzender Lenzen. Deswegen fordern die Forscher in zahlreichen weiteren Gebieten bildungspolitische Maßnahmen, ob in Bezug auf Migration oder demografischen Wandel. Die Familienstrukturen verändern sich („Der Prozentsatz der nichtehelich geborenen Kinder hat sich allein seit dem Jahr 1995 mehr als verdoppelt und es ist zu registrieren, dass nichteheliche Partnerschaften im Vergleich zu Ehen weniger stabil sind“), was bedeutet: Immer mehr Scheidungskinder tragen ihre Probleme in die Schulen. Das führt zu einer bislang unbeantworteten Schlüsselfrage: „Wie gestalten wir ein Bildungssystem, in dem Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer sozialen Merkmale keine Nachteile erfahren?“

Das Gutachten wirft viele Fragen auf. Antworten liefert es nur wenige. Agentur für Bildungsjournalismus / mit Material der dpa

Hier geht es zum vollständigen Gutachten des Aktionsrats Bildung.

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GriasDi
6 Jahre zuvor

Wie oft wurden epochale Veränderungen schon angekündigt 🙂

Bernhard Färber
6 Jahre zuvor

„Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass schon Grundschüler, die einmal pro Woche am Computer arbeiten, deutlich bessere Kompetenzen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften hätten.“

Also nach allen Informationen, die mir zur Verfügung stehen, gibt es diesen Zusammenhang zwischen der Quantität von Computereinsatz und dem Lernerfolg nicht, – das geht u.a. aus der Hattiestudie klar hervor. Entscheidend ist sinnvoller Medieneinsatz. Gerade für den Grundschulbereich gibt es wenig wissenschaftliche Belege dafür, dass die Digitalisierung große Kompetenzgewinne verspricht. Da ist die Lehrkraft selbst oft das wirksamere und authentischere Medium.

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„Im Unterricht müssten Internetphänomene stärker behandelt werden, betonen die Forscher. Schüler sollten demnach lernen, aus „der potenziell unendlichen Informationsflut der digital vernetzten Welt sinnvolles und verwertbares Wissen herauszufiltern““

Die beste Gewähr dafür, dass Kinder sich in der Informationsflut der modernen Gesellschaft zurechtfinden, bietet nicht eine Verstärkung des Informatikunterrichts oder die umfänglichere Behandlung von „Internetphänomenen“, sondern der Aufbau eines intelligent vernetzten breiten Allgemeinwissens bei Schülern. Nur wer etwas weiß, kann Wichtiges von Unwesentlichem unterscheiden, nur wer gelernt hat, Informationen kritisch zu hinterfragen, kann Fake-News erkennen, – wer nichts weiß, muss alles glauben…

Bernd
6 Jahre zuvor
Antwortet  Bernhard Färber

Wissen ist nur leider in der digitalen Informationsgesellschaft, in der wir zunehmend leben, nicht statisches – sondern entwickelt sich dynamisch. Was unsere Kinder in zehn, 20 Jahren wissen müssen, können wir ihnen heute gar nicht beibringen – weil wir’s ja selbst nicht wissen. Also müssen sie lernen, sich selbst Wissen anzueignen. Und das lässt sich ja schon heute nicht mehr ohne digitale Kompetenzen bewerkstelligen.

Ein Allgemeinwissen á la Schwanitz, das ich einmal erwerbe und das mich dann durchs Leben trägt, gibt es nicht mehr. Der Aufbau eines „intelligent vernetzten breiten Allgemeinwissens bei Schülern“, so wichtig das ist, reicht deshalb nicht mehr aus – da muss mehr kommen.

g. h.
6 Jahre zuvor
Antwortet  Bernd

Es ist doch eine Binsenweisheit, dass es neben dem statischen auch dynamisches Wissen gibt. „Ein Allgemeinwissen…, das ich einmal erwerbe und das mich dann durchs Leben trägt“, hat es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben, auch nicht in der vordigitalen Zeit.
Sie tun so, als sei dies ganz neu statt uralt und erfordere deshalb mehr Umgang mit digitalen Medien in den Schulen..

@B. Färber
Dem, was Sie schreiben, möchte ich zustimmen.

Bernd
6 Jahre zuvor
Antwortet  g. h.

Vor 25 Jahren konnte Dietrich Schwanitz mit einem Buch unter dem Titel „Allgemeinbildung – alles, was man wissen muss“ noch einen Bestseller landen. Wer das heute versuchen würde, würde sich lächerlich machen.

g. h.
6 Jahre zuvor
Antwortet  Bernd

Ich kenne das Buch, weswegen Sie mir nicht jede Behauptung vorsetzen können. Was Dietrich Schwanitz damals sagte, besitzt für mich im Großen und Ganzen heute sogar besondere Gültigkeit.
Es mag sein, dass ein Buch über „Allgemeinbldung“ im Moment keinen reißenden Absatz mehr findet. Ob sich der Autor damit allerdings lächerlich macht, wage ich zu bezweifeln. Mir würde sein schwieriges Unterfangen imponieren.
Nebenbei gesagt: D. Schwanitz war selbst vom Erfol seines Buches überrascht und schrieb nicht mit der Absicht, einen Bestseller zu landen. Glücklicherweise gab es aber genug bildungsinteressierte, nicht lachende Bürger, die ihm Erfolg bescherten.

Bernd
6 Jahre zuvor
Antwortet  Bernd

„… heute sogar besondere Gültigkeit“ – soviel zum Thema statischer Bildungsbegriff. Hat sich für Sie in den vergangenen 25, 30 Jahren nichts mehr ereignet, das zur Allgemeinbildung gehört? Es haben seitdem ja mit Globalisierung und Digitalisierung nur zwei welthistorische Umwälzungen stattgefunden …

GriasDi
6 Jahre zuvor
Antwortet  Bernd

Zitat:
„Was unsere Kinder in zehn, 20 Jahren wissen müssen, können wir ihnen heute gar nicht beibringen – weil wir’s ja selbst nicht wissen. Also müssen sie lernen, sich selbst Wissen anzueignen.“

Sagt nicht die Hirnforschung: Je mehr man weiß, desto besser kann neues Wissen anknüpfen? Also ist es durchaus nötig etwas zu wissen. Nur wenn ich etwas weiß, kann ich mir neues Wissen aneignen.
Übrigens: Haben nicht alle Generationen immer weiter lernen müssen? Standen nicht alle Generationen vor den selben Problemen? Wie haben die es nur geschafft.

Birgit
6 Jahre zuvor
Antwortet  GriasDi

Guter Kommentar, GriasDi! Es ist, wie Sie sagen.

Ursula Prasuhn
6 Jahre zuvor

@Bernd
Über das Buch „Bildung“ von Prof. Dietrich Schwanitz kann ich auch nicht lachen – es sei denn über humorige Passagen.
Eine kurze und knackige Leseprobe mag zeigen, wie passend und keineswegs überholt sich der Autor bereits vor knapp 20 Jahren über Schule, Lehrer und Geschichte äußerte.
Mein mehrfacher Meinungsstreit mit Ihnen lässt mich ahnen, warum Sie das Buch indirekt als lächerlich bezeichnen und dies mit den Schlagworten Globalisierung und Digitalisierung begründen.
Allein die Zeilen der Leseprobe müssen Ihren Unmut erwecken:
https://www.exlibris.ch/de/buecher-buch/deutschsprachige-buecher/dietrich-schwanitz/bildung/id/9783442151479

Bernd
6 Jahre zuvor
Antwortet  Ursula Prasuhn

Ich bezeichne nicht das Buch als lächerlich, sondern den mit dem Titel transportierten Anspruch: „Allgemeinbildung – allles, was Sie wissen müssen“. Das war schon damals Hochstapelei, denn das Werk kommt komplett ohne die Naturwissenschaften aus. Wenn sich heute ein Berufseinsteiger oder Studienanfänger auf einen solch statischen Kanon berufen würde, käme er nicht weit.

Ursula Prasuhn
6 Jahre zuvor
Antwortet  Bernd

Sie finden also nur noch „den mit dem Titel transportierten Anspruch“ lächerlich.
Mehr Korrektheit beim Titel könnte die Lächerlichkeit vertreiben. Er spricht nicht von „Allgemeinwissen“ und „Allgemeinbildung“, wie Sie das tun, sondern von „Bildung“.
Auf dem Buch steht dick und fett BILDUNG. Im Untertitel heißt es dann: „Alles, was man wissen muss“.

Alles, was ich über Bildung wissen muss, bedeutet doch nicht, dass ich fleißig einen „statischen Kanon“ lerne und am Ende ein gebildeter Mensch bin.
Der unverfälschte Titel mit dem dynymischen Begriff „Bildung“ hätte Sie vielleicht vor Missverständnissen bewahrt.