„In den Schulen müsste der Süßigkeitenverkauf gestoppt werden“ – Mediziner fordern von Politikern stärkeren Kampf gegen Übergewicht

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HANNOVER. Übergewicht und Adipositas unter Kindern greifen europaweit um sich. Allein in Deutschland ist die Zahl übergewichtiger Kinder in den letzen 20 Jahren um die Hälfte gestiegen. Wissenschaftler machen dafür nicht zuletzt die Werbung verantwortlich. Doch auch an Schulen und Kitas liegt einiges im Argen.

Viele Kinder in Europa sind zu dick und bewegen sich zu wenig. Als Ursachen für die überflüssigen Pfunde sehen die Autoren einer kürzlich vorgestellten Studie in zwölf Ländern die Allgegenwärtigkeit von überzuckerten oder fettigen Snacks an, begleitet vom Marketing der Lebensmittelindustrie. Zum Europäischen Adipositas-Tag am kommenden Samstag fordern Mediziner einen nationalen Aktionsplan Adipositas, wie es ihn für Diabetes bereits gibt.

Adipositas kann zu schweren Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Fettleber und Bluthochdruck führen Foto: FatTeen97 / Wikimedia Commons (Public domain)
Adipositas kann zu schweren Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Fettleber und Bluthochdruck führen Foto: FatTeen97 / Wikimedia Commons (Public domain)

«Adipositas ist für mindestens 20 bis 40 Folgeerkrankungen die Ursache», sagt der Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Matthias Blüher. «Aus meiner Sicht ist das Problem nur zu lösen, indem man politisch handelt.»

Nach den jüngsten von 2008 bis 2011 erhobenen Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) haben in Deutschland zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen Übergewicht. Ein Viertel der Erwachsenen ist adipös – Tendenz steigend. Bei den Kindern und Jugendlichen waren zuletzt rund 16 Prozent übergewichtig und 6,3 Prozent adipös, 50 Prozent mehr als in den 80er und 90er Jahren.

Drei Viertel der gezielt beworbenen Kinderlebensmittel in Deutschland sind laut einer Marktstudie von Foodwatch zu süß oder zu fettig, sollten also eigentlich nur sparsam verzehrt werden. Die Hersteller könnten mit diesen die größten Gewinnspannen erzielen, erklärte die Verbraucherschutzorganisation. Die Lebensmittelindustrie dränge Kindern massenhaft Junkfood auf und verführe sie zur falschen Ernährung, kritisiert Foodwatch.

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Gesunde Lebensmittel müssten einfacher zugänglich und kostengünstiger angeboten werden, fordert Medizinprofessor Blüher, der an der Universität Leipzig eine Adipositas-Ambulanz leitet. Denkbar ist aber auch eine Steuer auf ungesunde Produkte. Unter anderem in Frankreich gibt es bereits eine Zuckersteuer auf süße Getränke, Großbritannien will sie einführen. Das Bundesernährungsministerium sieht dagegen eine Besteuerung von «sogenannten ungesunden Lebensmitteln als nicht zielführend» an. Bundesernährungsminister Christian Schmidt (CSU) setze vor allem auf Prävention durch Bildung und Information, sagte Sprecher Carsten Reymann. So plädiere der Minister unter anderem für die Einführung eines Schulfaches Ernährungsbildung.

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Konstatiert die WHO in den letzen zehn Jahren zwar einen Trend zum Positiven, was das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen betrifft, zeigt sich darin jedoch eher eine andere bedenkliche Entwicklung als eine grundsätzliche Kehrtwende. Gerade Kinder aus sozial schwachen Familien etwa wiesen in Studien weiterhin eine schlechtere Gesundheit auf als die Altersgenossen aus wohlhabenden Familien. Die physischen und psychischen Folgen vertiefen dabei die soziale Spaltung der Gesellschaft auf vielfältige Weise.

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Kinder aus sozial benachteiligten Familien sind weit häufiger extrem übergewichtig – in der Gruppe der 14- bis 17-Jährige laut einer Studie sogar fast dreimal so oft wie Kinder mit hohem Sozialstatus. Der Chefarzt am Kinder- und Jugendkrankenhaus Auf der Bult in Hannover, Thomas Danne, hält vor diesem Hintergrund ein Umsteuern bei der Prävention für sinnvoll. Die Aufklärungskampagnen und Programme richteten sich noch viel zu stark an das Bildungsbürgertum, kritisierte der Diabetologe. Danne ist ärztlicher Leiter des Kick-Programms, das 8- bis 17-Jährigen beim Abspecken hilft. Die Teilnehmer absolvieren ein Sporttraining und werden mit ihren Eltern von Diätassistenten aufgeklärt. Zudem unterstützt eine Psychologin den ein Jahr dauernden Kurs.

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«Wir haben mit Kick gute Erfahrungen gemacht», berichtet Danne. Ein Drittel der Kinder verliere Gewicht, ein Drittel nehme nicht weiter zu und bei einem weiteren Drittel verbessere sich zumindest das psychische Wohlbefinden. Wer zu viele Kilos mit sich herumschleppt, erkrankt häufiger an Depressionen.

«Viele Kitas und Schulen bieten aus Kostengründen unausgewogene Mahlzeiten an, weil hochwertige Lebensmittel teurer sind», beklagt der ärztliche Leiter des Abnehmprogramms in Hannover. Dort bekommen einige Teilnehmer ihr Problem schon in den Griff, wenn sie Apfelschorle, Limo und Süßigkeiten weglassen. Auch was die Kioske in Schulen angehe, sei ein Eingriff des Gesetzgebers notwendig, meint Danne: «In den Schulen müsste der Süßigkeiten-Verkauf gestoppt werden.» (Christina Sticht, dpa, news4teachers)

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Palim
6 Jahre zuvor

Man kann als Schule ein gesundes Frühstück einfordern und bekommt dann wüste Beschimpfungen seitens mancher Eltern und im Anschluss Atteste von Ärzten vorgelegt, aus denen die Eltern herauslesen, dass der Arzt empfohlen habe, dass das Kind Schoko-Nuss-Creme-Brote essen solle.

Schule soll mal wieder richten, was Politik nicht durchsetzen will: eine klare, leicht verständliche Kennzeichnung auf den Lebensmitteln wäre womöglich günstiger und zielführender.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  Palim

Stimmt eine Lebensmittelampel bzgl. Fett und Zucker ähnlich wie die FSK-Plakette bei Filmen wäre ein erster Schritt, auch wenn auf einer Flasche Öl die rote Plakette „Achtung, viel Fett“ kommen wird. Dieses Projekt wurde schon einige Male versucht, die Lebensmittelindustrielobby hat das aber erfolgreich verhindern können.

Andererseits kann man die Kioske bzw. Caterer durchaus verstehen. Sie sind auf Umsätze angewiesen, die sich mit Obst und dem „normalen“ Mittagessen kaum generieren lassen.

Axel von Lintig
6 Jahre zuvor
Antwortet  Palim

Was sind das für Kinderärzte, die derartige Bescheinigungen ausstellen.
An den Grundschulen meiner Kinder erhalten die Schüler Ernährungskunde-Unterricht mit dem Klaro-Programm. Außerdem werden Äpfel und Birnen im Herbst, im Frühling Erdbeeren und gelegentlich Kirschen im Sommer von Privatpersonen und einem privaten Förderverein gestiftet.
Die älteste Töchter ist Freitags in einer Koch-AG und da wird dann sehr bewusst gekocht und gemeinsam gegessen mit den Lehrern der AG.

Palim
6 Jahre zuvor
Antwortet  Axel von Lintig

Das Thema Ernährung dürfte in allen Grundschulen ein Thema sein, da braucht es keine zusätzliche Aufforderung. Vermutlich ist es auch in allen Lehrplänen verankert. Sollte dies nicht so sein, könnte das Land es ja selbst initiieren.

Das Klaro-Programm heißt „Klasse 2000“, es kostet 220€ pro Klasse pro Jahr, häufig wird es über Sponsoren finanziert, so man sie denn findet.
Auch für Koch-AGs oder Ernährungs-Unterricht gibt es „Programme“, kosten werden meist auf die SuS umgelegt. Es gibt Hauswirtschaftsmeisterinnen, die den Unterricht durchführen, oder Lehrkräfte, die Programme nutzen: Aber auch da heißt es: aufgepasst bei der Programm-Wahl: Natürlich gibt es auch Programme namhafter Fast-Food-Ketten, die erläutern, wie gesund das obligatorische Salatblatt im Burger ist und wie vollwertig die Ernährung dort. Und wer Bolognese als Tüten-Kost vorschlägt, disqualifiziert sich selbst.
Schulobst-Programme werden inzwischen von mehreren Bundesländern finanziert, benötigen aber Räume und Personal/ Ehrenamtliche, die das Obst zubereiten.
Beim Schulessen an Ganztagesschulen sollte vielleicht in Umdenken erfolgen, dass die Wahl des Anbieters nicht allein aus Kostengründen erfolgt, sowohl was das Essen, als auch was das Personal betrifft. Autonomie der Schule ist gerne eine Misstandsverwaltung, sodass Schulen gar keine Wahl haben.

Es gibt also schon einiges, was in Schulen umgesetzt wird.

Wenn Bundesernährungsminister Christian Schmidt (CSU) …“unter anderem für die Einführung eines Schulfaches Ernährungsbildung.“ eintritt, müssten ja die Kultusministerien der Länder mitziehen, die so oder so nicht in seinen Entscheidungsbereich fallen.