Lehrermangel: Niedersachsen kann freie Stellen nicht mehr besetzen – Verbände laufen Sturm gegen Heiligenstadt („Offenbarungseid“)

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HANNOVER. Am letzten Ferientag gibt sich Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt optimistisch, dass kein Pflichtunterricht ausfallen wird. Opposition und Verbände zeichnen dagegen ein düsteres Bild von der Situation in den Schulen. Der VNL/VDR nennt  Heiligenstadts Vorstellung „dreist“ – der Philologenverband spricht gar von einem „Wolkenkuckucksheim“.

Kultusministerin Heiligenstadt (hier bei einem Schulbesuch auf Borkum). Foto: Matthias Groote / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Unter Druck: Niedersachsens Kultusministerin Heiligenstadt (hier bei einem Schulbesuch auf Borkum). Foto: Matthias Groote / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Zum Start des neuen Schuljahres sucht Niedersachsen noch Lehrkräfte für rund 280 freie Stellen. Besonders dramatisch ist die Situation an Grund-, Haupt- und Realschulen: Hier gab es 632 Einstellungsmöglichkeiten zum 31. Juli, davon waren am 24. Juli erst 462 besetzt. Nach Angaben des Kultusministeriums hat dies mit einer Verlängerung der Studienzeit zu tun, aufgrund derer es in diesem Jahr weit weniger Absolventen gibt. Der Einstellungsprozess laufe aber noch, betonte Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) am Mittwoch in Hannover. «Der Pflichtunterricht ist auf jeden Fall gesichert.» Erneut habe das Land in großem Umfang Lehrkräfte eingestellt. Insgesamt wurden zum 31. Juli 1531 von 1814 offenen Stellen besetzt, davon 164 über Quereinsteiger.

Trotz Lehrermangels: Niedersachsen hat offenbar mehr Lehrer über die Ferien in die Arbeitslosigkeit geschickt als im Vorjahr

CDU und FDP rechnen dagegen mit Unterrichtsausfall. Der Lehrermangel sei ein hausgemachtes rot-grünes Problem, kritisierte der schulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Kai Seefried. Unter anderem seien zu wenig Pädagogen neu eingestellt worden. Der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte VNL/VDR sieht im neuen Schuljahr vor allem auf die Ober-, Real- und Hauptschulen große Probleme zukommen. Er bezweifele, dass an diesen Schulen Heiligenstadts Prognosewert von 98 Prozent Unterrichtsversorgung eingehalten werden könne, sagte der VNL-Vorsitzende Manfred Busch. Gute schulische Qualität werde auf der Strecke bleiben. Von den dort ausgeschriebenen Stellen konnten nach Verbandsangaben etwa 25 Prozent, also ein Viertel, nicht besetzt werden. 20 Prozent der Neueinstellungen seien zudem Quereinsteiger, die einer intensiven pädagogischen Unterstützung bedürften und daher noch nicht voll eingesetzt werden könnten. „Außerdem“, so Busch, „müssen diese Schulformen noch Lehrkräfte an die Grundschule abordnen“.

Mehr Geld? „Gibt der Landeshaushalt nicht her“

Der VNL fordert genauso wie die Lehrergewerkschaft GEW, den Lehrerberuf an Grund-, Haupt- und Realschulen in Niedersachsen unter unterem durch eine bessere Bezahlung attraktiver zu machen. Der Ministerin zufolge gibt das der Landeshaushalt nicht her. Heiligenstadt betonte, dass Rot-Grün die Ganztagsschulen viel besser ausgestattet habe und zusätzliche Unterrichtsstunden etwa für die Sprachförderung und Berufsfindung zur Verfügung stellt. «Die Gesamtlage ist nicht geeignet, irgendwelche Horrorszenarien an die Wand zu malen», betonte die Ministerin.

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Der Vorsitzende der Niedersächsischen Direktorenvereinigung, Wolfgang Schimpf, kritisierte die kurzfristige Abordnung von Gymnasiallehrkräften an Grundschulen. Teils seien weitere Verfügungen am Mittwoch, also einen Tag vor Beginn des neuen Schuljahrs, telefonisch erfolgt. «Diese Maßnahme bedeutet das Eingeständnis schweren Versagens bei der Bedarfsplanung, der zentralen Aufgabe jeder Schuladministration, und damit letztlich den Offenbarungseid für die Politik dieser Ministerin», sagte der Direktor des Göttinger Max-Planck-Gymnasiums.

Lehrermangel sorgt für Empörung: Jetzt werden Gymnasiallehrer schon zwangsweise an Grundschulen abgeordnet

Schweres Geschütz fuhr auch der Philologenverband auf: „Kein Wort von den massenhaften Abordnungen von Lehrkräften der Gymnasien an Grundschulen, kein Wort von den bedrückenden Problemen bei der Inklusion, kein Wort von übergroßen Klassen – die Ministerin steckt weiterhin den Kopf in den Sand“, kritisierte der Landesvorsitzende Horst Audritz. Die Ministerin versuche „die katastrophale Unterrichtsversorgung, die sich bereits im dritten Jahr in Folge auf rasanter Talfahrt befindet und sich im neuen Schuljahr noch weiter verschlechtern wird“, schönzureden. Das sei skandalös, meinte der Philologenchef.

Dass die Gymnasien Lehrkräfte an Grundschulen abgeben sollten, sei „ein Akt der Hilflosigkeit einer planlosen Ministerin“, befand Audritz. Absehbar seien „chaotische Situationen“ in den Schulen, wenn Gymnasien mit nur 97  Prozent Unterrichtsversorgung „noch eben mal so nebenbei“ 51 Stunden abordnen sollten. Spitzenreiter sei derzeit eine Schule mit nur 94 Prozent Unterrichtsversorgung, die jetzt noch die Weisung erhalten habe abzuordnen. „So wird die Unterrichtsversorgung in den Gymnasien von der Ministerin immer weiter nach unten gefahren“, kritisierte Audritz.

Die Äußerungen der Ministerin zum Schuljahresbeginn zeigten, dass sie ihr Amt nicht angemessen ausübe und sich „in ein Wolkenkuckucksheim“ begeben habe. Das Kultusministerium dümpele führungslos dahin. Audritz: „So kann es doch im Interesse unserer Schülerinnen und Schüler nicht weitergehen!“ News4teachers / mit Material der dpa

 

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D.Orie
6 Jahre zuvor

Mehr Lehrkräfte werden gebraucht. Ist ja eigentlich schon lange klar. Dass man dazu an den Unis und Hochschule mal endlich ein paar neue Prof.-Stellen (und nicht nur immer wie es die „Qualitätsoffensive“ vormacht: nur Mitarbeiterstellen) benötigt – nicht nur in Niedersachsen -, das liest oder hört man viel zu selten. Kein Geld, kein Geld, kein Geld ….

Zerstreu
6 Jahre zuvor

Ehrlich gesagt würde ich zu den derzeitigen Bedingungen (chronische Arbeitsüberlastung, mangelnde Verlässlichkeit und ständig neue zusätzliche Aufgaben) nicht mehr Lehrer werden wollen. Vor 10 Jahren war es schon schlimm und man wurde ständig mit Versprechungen hingehalten, aber derzeit wird der Laden so geführt, als würde man eine Insolvenz verschleppen.

sofawolf
6 Jahre zuvor
Antwortet  Zerstreu

Mein Reden. Am Gehalt liegt es nicht !

Hauptschullehrerin
6 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Am Gehalt der Gymnasiallehrkräfte sicher nicht ….hahaha, die bekommen bei der geringsten Unterrichtsverüflichtung aller Schulformen das meiste Geld. Sollen nicht rumheulen, andere Schulformen geben regelmässig Lehrkräfte ab. Oder gesteht man sich seitens des Philologenverbandes eine gewisse Inkompetenz ein?

Invictus
6 Jahre zuvor

Die LehrerInnen der anderen Schulformen ertragen ihr Leid aber auch nicht stillschweigend. Hier im Forum ist doch jeden Tag son A12-A13-Rumgeheule, da darf sich der Philologenverband doch auch mal etwas lauter melden.

OMG
6 Jahre zuvor
Antwortet  Invictus

Der Philologenverband dröhnt durch jede Diskussion. Nur mal so nebenbei. Ist aber auch beim Rumgeheule unschlagbar

Teacher Man
6 Jahre zuvor

Was hat das mit vermeintlicher Inkompetenz zu tun? Es gibt unterschiedliche Ausbildungsgänge für Lehrer an den verschiedenen Schulformen, da jeweils unterschiedliche Fähigkeiten verlangt werden. Wenn ich Rückenschmerzen habe, gehe ich ja auch nicht zum Augenarzt. Aber das scheint unsere Kultusministerin nicht zu verstehen. Wohl auch nicht, dass es eine Unverschämtheit ist, Schulen, die gerade ihre Planungen für das neue Schuljahr abgeschlossen haben, zu Abordnungen von Lehrerstunden an Schulen zu zwingen, die ebenfalls gerade ihre Stundenpläne erstellt haben. Das nenne ich Inkompetenz!

KoMe
6 Jahre zuvor

Erstaunlich, dass die Schülerzahlen immer so plötzlich ansteigen, obwohl die Kinder der jetzigen 1. Klassen doch schon vor 6 Jahren auf die Welt kamen. Mit sorgfältigerer Planung wären solche Schnellschüsse und so ein Chaos nicht nötig. Aber dafür braucht es eben mathematische und planerische Kompetenz und nicht nur parteipolitische Dogmen. Der Fisch der stinkt vom Kopfe her.

dickebank
6 Jahre zuvor
Antwortet  KoMe

Die Schulentwicklungsplanung liegt ja nicht beim Land sondern bei den Kommunen – zumindest hier in NRW.
Die Planer bei den Kommunen haben die Zahlen der örtlichen Melderegister im Blick, sie wissen wie viele Kinder in ihrem Zuständigkeitsbereich geboren worden sind oder vor dem Einschulungsalter zugezogen sind. Durch die Zahl der hier teilweise auch unangemeldet lebenden südosteuropäischen EU-Mitbürger und die Zahl der den Kommunen zugewiesenen Flüchtlingen mit Aufenthaltstatus haben sich die zahlen gegenüber den „Fünfjahresplänen“ erheblich verändert. Waren die Flüchtlinge bisjetzt in „internationalen Klassen“ aufgefangen, gehen sie jetzt aber in Regelklassen über. Gleichzeitig verschieben sich die Zahlen durch die Inklusion. Im Februar eines Jahres weiß man erst, wie viele Kinder ab dem neuen Schuljahr an welcher Grundschule und welcher weiterführenden Schule angemeldet sind. Aufgrund der Anmeldezahlen und der voraussichtlichen Abgängerzahlen ergibt sich dann die Schülerzahl und die möglichen Stellenzuweisungen.

Nur was nutzt das, wenn Planstellen mangels Bewerbern nicht besetzt werden können. Die Lehrkräfte mit zweitem Staatsexamen, die im Schuljahr 17/18 zur zusätzlichen Unterrichtsversorgung benötigt werden, hätten vor sieben Jahren zur Aufnahme eines Lehramtsstudiums bewegt werden müsssen. So um 2010 haben aber eben diese Abiturienten mitbekommen, dass für den Grundschulbereich allenfalls Bewerber mit einer Ordnungsgruppe (beide Examensnoten gemittelt mal Faktor 10) kleiner 13 zu Auswahlgesprächen eingeladen worden sind. Ein zusätzlicher Bedarf an Lehrkräften war da aber noch nicht abzusehen. Auch waren die Kinder, die diese Lehrkräfte jetzt bräuchten entweder noch gar nicht geboren oder noch gar nicht in Deutschland.

Paul
6 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

Dazu kommt, dass zunehmend die Studenten merken, dass bei gleicher Studienlänge man später lebenslang 500 bis 1500 Euro im Grundschulbereich (bei gleicher Belastung) weniger hat als im Gymnasial- oder BK-Bereich. Wer ist so blöd auf 30% seines Gehalt zu verzichten, bei gleicher Belastung? Niemand, deshalb explodieren die Zahlen der Gymnasialbewerber und man suc ht Grundschullehramtsanwärter. Den Zusammenhang will die Politik und der Philologenverband natürlich nicht sehen.

Kapunda
6 Jahre zuvor
Antwortet  Paul

Die Belastung ist nicht gleich. Am Gymnasium muss man neun verschiedene Jahrgänge unterrichten können, nicht nur vier, und das bei ständig wechselnden Vorgaben: In jedem Abiturdurchgang muss ich mich in Französisch und Spanisch in neue Bücher einarbeiten, obwohl es eigentlich möglich wäre (so wie in Englisch), über mehrere Jahre hinweg bei den gleichen Werken zu bleiben. Und die Korrektur der Klausuren? 1 Stunde pro Schüler in den Jahrgängen 11 und 12, da man immer noch alles fein kommentieren soll. Jede Klausur lese ich 5 bis 6 mal:
1. Runde: Fehler, die ich sofort eindeutig erkenne.
2. Runde: Merkwürdige Formulierungen, bei denen ich eigentlich erst einmal einen Spanier fragen muss, ob man „das noch so sagen kann“. Natürlich habe ich überhaupt keinen Spanier zur Hand. Also wird die Formulierung im Internet bei Google eingegeben: Wenn sie häufig benutzt wurde, dann geht sie durch.
3. Runde: Inhalt kommentieren. Also jeden Satz einzeln ‚kommentieren‘ (abhaken ist nicht erlaubt; mindestens „zutreffend“ oder eine andere Formulierung an den Rand schreiben).
4. Runde: Abschlusskommentar zur Fehlerhäufigkeit (obwohl das eigentlich ein Blinder mit ’nem Krückstock sehen kann).
5. Runde: Abschlusskomentar zum Wortschatz, also nochmal lesen.
6. Runde: Abschlusskommentar zu sprachtypischen Konstruktionen; ich kann ja wohl nicht schreiben, dass der Text keine solche Konstruktion enthält, wenn da irgendwo in den 500 Wörtern doch irgendwo eine versteckt ist. Also nochmal lesen.
Es gibt noch ein paar Aspekte, die man kommentieren sollte, aber das mach ich dann nicht mehr.
Ach, und dann noch mindestens drei einzelne Noten pro Schüler überlegen (Sprache, Inhalt, Inhalt), und das nicht auf einer Skala von 1 bis 6, sondern von 00 bis 15 Punkten.
Abiturklausuren dauern zwischen 4 und 8 Stunden pro Schüler und mussten im letzten Abidurchgang teilweise innerhalb von drei Wochen korrigiert werden.