Besuch in einer Willkommensklasse: Wie ein Richter den Flüchtlingskindern den deutschen Rechtsstaat erklärt

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BERLIN. Sie kommen aus Syrien, Ägypten, dem Irak und Moldawien. Eine Berliner Willkommensklasse und ein Richter diskutieren. Was ist das Grundgesetz? Warum darf man Angela Merkel nicht beschimpfen?

Zehntausende von Flüchtlingskindern müssen in den Schulen sprachlich und sozial integriert werden. Foto: UK Departement for Development / flickr (CC BY 2.0)
Zehntausende von Flüchtlingskindern müssen in den Schulen sprachlich und sozial integriert werden (Symbolfoto). Foto: UK Departement for Development / flickr (CC BY 2.0)

Abud aus dem Irak ist 14 Jahre alt. Er liebt Fußball und lernt seit einem Jahr Deutsch in einer Willkommensklasse im Berliner Ortsteil Wedding. Peter Cypra, 51, Richter am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg, liest gern Bücher und erklärt Ankömmlingen in Deutschland, was in ihrer neuen Heimat gilt. «Das wichtigste ist das Grundgesetz», sagt Cypra an einem Herbstvormittag in der Albert-Gutzmann-Grundschule.

Was heißt das denn, die Würde des Menschen ist unantastbar, fragt der Richter und setzt sich zu den zehn Schülern zwischen 12 und 17 Jahren. Abuds rechte Hand schnippt hoch. «Da steht drin, jeder Mensch ist wertvoll.» Sarah aus Ägypten (13) sagt: «Jeder darf denken.» Und für Mischa ist klar: «Jeder Mensch darf zur Schule gehen.» Cypra ist beeindruckt: «Ihr seid ja top drauf.» Es ist der vierte Kurs, den der Familienrichter neben seiner hauptberuflichen Arbeit stemmt – jedes Mal in anderen Einrichtungen.

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«Willkommen im Rechtsstaat – Willkommen in Deutschland» heißt das Programm, bei dem Richter und Staatsanwälte in der Hauptstadt ehrenamtlich in Schulen und Volkshochschulen unterwegs sind und erklären, was hier wie funktioniert. «Ich finde es einen guten Ansatz, Flüchtlingen unser Rechtssystem näherzubringen», sagt Cypra. Er hat Auszüge aus dem Grundgesetz mitgebracht, jeder bekommt eine Kopie. Alle wollen daraus vorlesen.

Es sei bereichernd, etwas über die Erwartungen der Jugendlichen mit so unterschiedlichem Hintergrund zu erfahren. «Es ist gut, nicht nur über Flüchtlinge in der Zeitung zu lesen», betont der Richter. Er hat dafür extra einen Vorbereitungskurs gemacht, es sei auch um eine «adressatengerechte Sprache» gegangen. «Ich versuche es immer so zu machen, dass etwas hängen bleibt», sagt Cypra.

«Egal, was jemand gemacht hat, wir bringen ihn nicht um. Wir haben keine Todesstrafe. Und Kinder dürfen nicht geschlagen werden», bespricht er mit einfachen Worten das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2. «Unversehrtheit- was für ein schwieriges Wort.» Sozialarbeiter Mahmoud Hammouri hilft, wenn es in der neuen Sprache noch hakt. Er spricht mal deutsch, mal arabisch. Nach seinen Angaben gibt es allein im Stadtbezirk Mitte, zu dem der Wedding gehört, mehr als 30 Willkommensklassen.

Auch diese Frage steht auf dem Programm von Richter Cypra: Warum sollte man kein Schimpfwort zu Angela Merkel, der Bundeskanzlerin, sagen? «Wir dürfen keine anderen Menschen beleidigen», meldet sich wieder Mischa zu Wort. Kritisieren sei aber erlaubt, so der Richter.

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Farah erzählt über Syrien. Wer öfter ohne Hausaufgaben kam, habe vor der Klasse die Schuhe ausziehen müssen und mit einem Stock Schläge auf die Füße bekommen. Als es um Glauben und Religion geht, schüttelt die 13-Jährige den Kopf: «Polizistin mit Kopftuch – geht nicht.» Auch Abud hat eine Meinung: «Manche hassen Kopftücher hier.» Dass in Deutschland Männer Männer heiraten dürfen, finden die meisten nicht so gut. Sie kichern.

In einem halben Jahr wird die Gruppe in reguläre Klassen kommen, sagt Integrationslehrerin Doreen Brumme. Die meisten seien motiviert, sie lernten schon ein Jahr lang Deutsch. Die 34-Jährige erzählt von dem langen Warten auf einen Therapie- sowie regulären Schulplatz für einen traumatisierten Flüchtlingsjungen, der letztlich mit 18 zum Jobcenter überwiesen worden sei. «Wir schreiben aber auch Erfolgsgeschichte», versichert Brumme. Ein afghanisches Mädchen habe es aufs Gymnasium geschafft, sie wolle Zahnmedizin studieren.

In der Berliner Senatsverwaltung für Justiz erläutert Charlotte Maus, wie das Programm nach dem großen Flüchtlingsstrom erarbeitet wurde – mit Quiz, Rollenspiel, leichter Sprache und einer Broschüre. Dolmetscher für Farsi, Arabisch oder Englisch wurden gesucht. «Es war ein gigantischer Aufwand. Doch es lohnt sich sehr.»

Seit Oktober 2016 wurden demnach rund 270 Kurse «Willkommen im Rechtsstaat» organisiert, 260 Richter und Staatsanwälte hätten sich dafür gemeldet, 100 seien derzeit im Einsatz. Zu dem Pool gehörten auch 50 Dolmetscher. Anfangs gingen die «Referenten» auch in Flüchtlingsunterkünfte, jetzt zunehmend in Volkshochschulen und Schulen, so Maus. Einen Teil der Kosten trage der Bund.

«Die deutsche Justiz bekommt ein Gesicht», betont Richterin Maus. Viele Flüchtlinge würden aus ihren Herkunftsländern teilweise keine staatliche Organisation kennen. Die 47-Jährige ist sich sicher: «Die Kurse sind ein guter Beitrag zur Integration.»

Andere Bundesländer haben ähnliche Programme aufgelegt. Im November wollen sich Vertreter aller Länder in Berlin treffen. Was hat der eine, was der andere noch gut ergänzen könnte? Es geht laut Senatsverwaltung um Austausch. Und die Frage, wie das aktive Integrationsprogramm weitergeführt werden kann. Von Jutta Schütz, dpa

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