Ist das noch Inklusion? Sachsen-Anhalt will Förderklassen an Regelschulen einrichten

10

MAGDEBURG. Für Förderschüler soll es künftig auch eigene Klassen an Sekundar-, Gesamt- und Gemeinschaftsschulen geben. Das schlägt Sachsen-Anhalts Bildungsminister Marco Tullner in einem neuen Konzept für Förderschulen vor. So soll unter anderem der Wechsel in die Regelschule vereinfacht werden. Bisher sind Förderschulklassen an allgemeinbildenden Schulen nicht möglich. Das Schulgesetz müsste entsprechend geändert werden. Zudem plant der CDU-Politiker, dass künftig mehrere Schwerpunkte an einer Förderschule unterrichtet werden können.

Schreibt die Inklusion gemeinsamen Unterricht vor - oder reicht ein gemeinsames Schulgebäude? Foto: Shutterstock
Schreibt die Inklusion gemeinsamen Unterricht vor – oder reicht ein gemeinsames Schulgebäude? Foto: Shutterstock

In Sachsen-Anhalt ist der Anteil der Schulabbrecher im bundesweiten Vergleich besonders hoch. Viele Förderschüler gehen ohne Abschluss ab. Das neue Konzept soll den Anteil mit Abschluss erhöhen. Nach Angaben des Ministeriums gibt es derzeit rund 14.800 Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Die Spanne reicht von Seh- und Hörbehinderungen über körperliche und geistige Handicaps bis hin zu auffälligem Verhalten oder besondere Lernschwäche. Zwei Drittel der Betroffenen lernen in Förderschulen, die anderen im gemeinsamen Unterricht an den allgemeinbildenden Schulen.

Hintergrund: Inklusion in der Schule – was die UN-Behindertenrechtskonvention wirklich bedeutet (erklärt von einem Völkerrechtler)

Fraglich ist allerdings, ob die Idee von Förderschulklassen an Regelschulen tatsächlich der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht, die der Bundestag 2009 ratifiziert und damit in deutsches Recht überführt hat. In Artikel 24 heißt es wörtlich: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen (…)“. In einem Gutachten, das der Völkerrechtler Prof. Dr. Claus Dieter Classen (Universität Greifswald) im Auftrag der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern erstellt hat, heißt es bezüglich der konkreten Anforderungen, die sich daraus ergeben: „Sicherstellung der qualifizierten Einbeziehung aller Kinder in den gemeinsamen Unterricht (‚zieldifferenter Unterricht‘)“. Und von gemeinsamem Unterricht kann in speziellen Förderklassen ja keine Rede sein.

Menschenrechts-Beauftragter kritisiert die Entwicklung der Inklusion in Deutschland als „klar konventionswidrig“

So lehnt der Leiter der unabhängigen Monitoring-Stelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte, Valentin Aichele, Sonderklassen an Regelschulen ausdrücklich ab. In einem Interview mit News4teachers erklärte er, darauf angesprochen: „Die Konvention spricht klar von ‚einem inklusiven System‘ und nicht noch einem Parallelsystem. Dafür, dass die UN-Behindertenrechtskonvention die Sondereinrichtungen nicht umfasst, spricht auch die Entstehungsgeschichte. Inklusion heißt: zusammen, von Anfang an, unabhängig von Art und Schwere der Beeinträchtigung.“ Aichele ist in Sachen Inklusion nicht irgendwer: Als Chef der Monitoring-Stelle ist er vom Bundestag beauftragt, den Reformprozess in Deutschland zu beobachten – und den Vereinten Nationen (UN) darüber Bericht zu erstatten. N4t/mit Material der dpa

Inklusion nach Gutsherrenart: Warum die Hamburger Schulbehörde nun einen Schüler mit Asperger-Syndrom verklagt

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

10 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
xxx
6 Jahre zuvor

Inklusion, wie sie sich die Verfechter der radikalen Inklusion vorstellen, ist das sicherlich nicht mehr. Der Vorschlag ist aber pragmatisch. Wenn die allermeisten nicht körperlich behinderten Inklusionsschüler ab spätestens Klasse 7 in keinem kopflastigen Fach mehr mitkommen, können sie auch in einer eigenen Klasse beschult werden ohne die Regelschüler zu bremsen. Wirklich inkludiert sind die Inklusionsschüler somit nicht, wenn man vom gleichen Raum absieht.

Mit dem alten System hat das aber auch nicht mehr viel gemeinsam, weil die Inklusions- und Regelschüler in jeder Pause zusammen sind und (im Zweifel) die Inklusionsklassen wesentlich größer und von weniger spezialisierten Kollegen unterrichtet werden. Mit „weniger spezialisiert“ meine ich, dass die für die Schule zuständige Förderschullehrkraft die Inklusionsklasse unterrichtet, unabhängig vom gelernten Förderschwerpunkt und den Förderbedarfen der Schüler.

Conny
6 Jahre zuvor

Es gibt 1000 Interpretationen der UN-Menschenrechtskonvention. Gegen die zitierten Interrpetationen von Herrn Aichele oder Herrn Classen kann man zahlreiche andere setzen, die dies begründet anders sehen. tatsache ist, dass der Begriff „inklusives Schulsystem“ bewusst offen gehalten worden ist. Sonst hätte man ja die organisatorische Umsetzung gleich in die Menschenrechtskonvention hineinschreiben können. Hat man aber nicht, weil ansonsten die Akzeptanz bei den potenziellen Unterzeichnerstaaten viel geringer gewesen wäre.
So hat jedes Land die Chance, seine eigenen Strukturen noch als „inkusives Bildungssystem“ zu verkaufen. Abgesehen davon: Als ich vor zwei Jahren in Finnland war, staunte ich nicht schlecht, weiviele Spezialklassen für Kinder mit Förderbedarf an den dortigen Gemeinschaftsschulen existieren. Davon ist Sachsen-Anhalts Zukunftsplan nicht weit entfernt.

Cavalieri
6 Jahre zuvor
Antwortet  Conny

Auch im vielgerühmten Schweden wird die Inklusion offenbar etwas anders interpretiert als bei uns:

https://bildungsklick.de/schule/meldung/inklusion-in-schweden-vorbild-oder-zerrbild/

Wilma Pause
6 Jahre zuvor

Conny schrieb: „Es gibt 1000 Interpretationen der UN-Menschenrechtskonvention. Gegen die zitierten Interrpetationen von Herrn Aichele oder Herrn Classen kann man zahlreiche andere setzen, die dies begründet anders sehen.“

Sehr richtig, Conny. Und das haben sowohl Sie als auch ich hier im Forum schon diverse Male getan. Offensichtlich kann man es aber gar nicht oft genug wiederholen. Deshalb auch an dieser Stelle nochmal vier
exemplarische Zitate, die eine dezidiert andere Auffassung vertreten:

1. http://www.sueddeutsche.de/bildung/inklusions-debatte-inklusive-missverstaendnisse-1.2182484
2. https://www.news4teachers.de/2017/05/gastbeitrag-zur-inklusion-nicht-eine-schule-fuer-alle-sondern-fuer-jedes-kind-die-beste/
3. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ueberforderte-schulen-ist-die-inklusion-in-jetziger-form-noch-tragbar-15028318.html
4. https://www.noz.de/lokales/melle/artikel/991119/foerderschule-in-melle-ist-ein-muss
5.

Duhalde
6 Jahre zuvor

Inklusion wäre eine schöne Sache aber sie funktioniert in der Regelschule nicht ( siehe Bremer Schulmodell und Pisa-Ergebnisse). Sog. Förderschule oder auch Förderklassen wären viel realistischer und besser für die betroffenen Kinder und Eltern. Die Politiker sollten das verinnerlichen und handeln.
Auch wäre der Sozialismus theoretisch human gewesen. Aber in der Praxis wurde nichts daraus .
Eine Sache ist die Theorie und was anderes die Praxis

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  Duhalde

meine Meinung. wenn ein Schüler mit Förderbedarf aber in einer regelklasse kognitiv, sozial und organisatorisch mithalten kann, dann soll er bitte auch dort beschult werden. Die Radikalinklusion als Sparmaßnahme ist eine Katastrophe für alle Schüler, Lehrer und Eltern. Diese Stimmen werden iimme lauter, so dass auch die härtesten Verteidiger des Sparmodells hellhörig werden müssten, vorausgesetzt sie sind tatsächlich so human wie sie sich im Vorfeld der Debatte ihrer Meinung nach im Sinne der Behinderten eingesetzt haben.

Grundschullehrer
6 Jahre zuvor

Es ist einfach pragmatisch, zusätzliche Förderklassen zu installieren. Die haben wir an unserer Schule auch. Die Kinder genießen das und empfinden die Zuwendung iund Förderung in einer kleinen Lerngruppe als angenehm. Auch die Eltern haben sich darüber bisher sehr positiv geäußert. Man sollte die Inklusion realistisch und pragmatisch, fern von ideologischen Vorstellungen umsetzen. Vor allem sollte man die Bürgerinnen und Bürger fragen, was sie sich vorstellen können. Die „Alle-in-einen-Topf-Inklusion“ ist aus meiner Sicht gescheitert. Es braucht hier besser durchdachte und durchfinanzierte Konzepte.

Axel von Lintig
6 Jahre zuvor
Antwortet  Grundschullehrer

Ich kann mir die Inklusion nur in Form eigenständiger Klassen ,die Anforderungen bestehenden Schulen angegliedert sind vorstellen. Das wird allen besten gerecht und man kann in einzelnen Fßchern die Schüler gemeistert unterrichten. Es macht keinen Sinn alle Gruppen der Schüler gemeinsam in Deutsch,Englisch und Mathematik zu unterrichten.

Axel von Lintig
6 Jahre zuvor
Antwortet  Axel von Lintig

die an bestehende….

Palim
6 Jahre zuvor
Antwortet  Axel von Lintig

Ich kann es mir auch anders vorstellen und habe es nun fast 4 Jahre in der eigenen Klasse veranstaltet.

Nichtsdestotrotz braucht es andere Bedingungen, wenn man den Kindern – allen – gerecht werden will.
Ob es gesonderte Klassen sind (mit durchgängigem FöS-Personal),
gemischte Klassen mit der Möglichkeit, Kurse einzurichten (mehr Personal für die Kurse)
oder gemischte Klassen mit zusätzlichem Personal (für viele Stunden und viele Möglichkeiten) …
… immer geht meine Vorstellung gelungener Inklusion davon aus, dass es zusätzliches Personal braucht, wenn man die Kinder mit Beeinträchtigungen angemessen berücksichtigen will und die anderen Kinder ebenso,
Personal für den Unterricht UND zusätzlich auch Personal für die Förderung/ Therapie.